BFH: Ermessensausübung bei der Festsetzung eines Verzögerungsgelds
Nicht jede Verletzung der Mitwirkungspflichten im Rahmen einer Außenprüfung darf zur Festsetzung eines Verzögerungsgelds führen – dies gelte auch dann, wenn ausreichende Gründe für eine entschuldbare Fristversäumnis weder vorgetragen noch festgestellt werden. Bei der Ausübung des Auswahlermessens ist ein früheres Verhalten des Steuerpflichtigen nicht zu berücksichtigen.
Sachverhalt
Die Klägerin, eine OHG, legte im Dezember 2008 Einspruch gegen die Anordnung einer Außenprüfung ein, welchen das Finanzamt abwies. Das angestrengte Klageverfahren wurde eingestellt, da die Einspruchsentscheidung dem falschen Inhaltsadressaten und damit nicht wirksam bekanntgegeben worden war.
Das FA teilte der Klägerin im Dezember 2009 mit, dass am 11.01.2010 mit der Außenprüfung begonnen werde und forderte bestimmte Unterlagen an. Es werde ein Verzögerungsgeld festgesetzt, sofern die Unterlagen nicht bis zum Beginn der Außenprüfung eingereicht worden seien. Die Klägerin legte Einspruch gegen die „geänderte Prüfungsanordnung“ ein und beantragte AdV. Das Finanzamt lehnte den Antrag auf AdV mit Bescheid vom 28.01.2010 ab und setzte mit Bescheid vom 03.03.2010 ein Verzögerungsgeld von EUR 4.800 fest. Den Einspruch gegen die Festsetzung des Verzögerungsgelds wies das Finanzamt ab.
Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte Erfolg.
Entscheidung
Das FG sei zutreffend davon ausgegangen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 146 Abs. 2b AO im Streitfall erfüllt gewesen seien. Ein Verzögerungsgeld könne auch dann festgesetzt werden, wenn ein Steuerpflichtiger, der seine Bücher und Aufzeichnungen im Inland führt und aufbewahrt, seiner Pflicht zur Erteilung von Auskünften oder zur Vorlage von Unterlagen im Rahmen einer Außenprüfung gem. § 200 Abs. 1 AO nicht innerhalb angemessener Frist nachkommt. Der Festsetzung des Verzögerungsgeldes stehe nicht entgegen, dass Rechtsmittel gegen die Aufforderung zur Vorlage der Unterlagen eingelegt worden waren. Entscheidend sei, dass sie vollziehbar war.
Das Finanzamt habe allerdings sein Entschließungsermessen hinsichtlich des „Ob“ einer Festsetzung des Verzögerungsgelds und sein Auswahlermessen hinsichtlich der Höhe des Verzögerungsgelds fehlerhaft ausgeübt (vgl. zum Ermessen BFH-Beschlüsse vom 16.06.2011).
Bei der gerichtlichen Prüfung der Ermessensentscheidungen bei der Anwendung des § 146 Abs. 2b AO sei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Einspruchsentscheidung) zugrunde zu legen. Die Finanzbehörde könne Ermessenserwägungen nicht erstmals im finanzgerichtlichen Verfahren anstellen oder Ermessensgründe auswechseln oder nachholen.
Das Verzögerungsgeld solle zum einen zur zeitnahen Erfüllung von Mitwirkungspflichten anhalten und zum anderen die Verletzung der Mitwirkungspflichten sanktionieren (vgl. BFH-Urteil vom 28.08.2012). Die Ermessenserwägungen seien daher insbesondere an der Dauer der Fristüberschreitung, den Gründen und dem Ausmaß der Pflichtverletzung/en sowie der Beeinträchtigung der Außenprüfung auszurichten (vgl. Fragen-Antwort-Katalog des BMF vom 28.09.2011).
Nach Auffassung des BFH sind die Ermessenserwägungen bei der Ausübung des Entschließungs- und des Auswahlermessens anzustellen.
Es bedürfe einer sorgfältigen Abwägung, ob überhaupt ein Verzögerungsgeld festgesetzt werde, da es sich bei dem Mindestbetrag i. H. v. 2.500 EUR nicht um einen Bagatellbetrag handle (vgl. BFH-Urteil vom 28.08.2012). Nicht jede Verletzung von Mitwirkungspflichten dürfe zur Festsetzung eines Verzögerungsgeldes führen – dies gelte auch dann, wenn ausreichende Gründe für eine entschuldbare Fristversäumnis weder vorgetragen noch festgestellt werden. Auch bei schuldhafter Verletzung von Mitwirkungspflichten bedürfe es daher stets einer näheren Begründung der Ermessenserwägungen.
Das Finanzamt habe sein Entschließungsermessen fehlerhaft ausgeübt, da es die Festsetzung des Verzögerungsgelds allein damit begründet habe, dass keine (ausreichenden) Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe für die verspätete Vorlage der Unterlagen vorlagen. Das FA hätte in seine Ermessenserwägungen insbesondere einbeziehen müssen, dass über den Einspruch und den Antrag auf AdV zum Zeitpunkt des Fristablaufs noch nicht entschieden worden war.
Das FA habe auch das Auswahlermessen fehlerhaft ausgeübt. Die Ermessenserwägung sei an den gesamten Umständen der Pflichtverletzung und insbesondere an der Dauer der Fristüberschreitung, den Gründen und dem Ausmaß der Pflichtverletzung/en sowie der Beeinträchtigung der Außenprüfung auszurichten. Einzelnen Umständen, wie der Dauer der Fristüberschreitung, könne dabei ein besonderes Gewicht beigemessen werden. Es sei jedoch ermessensfehlerhaft, das Verhalten der Klägerin seit der Anordnung der Außenprüfung im Jahr 2008 einzubeziehen. Mit dem Verzögerungsgeld solle nur die fehlende Mitwirkung, nicht aber früheres Verhalten des Steuerpflichtigen sanktioniert werden. Bei der Bemessung des Verzögerungsgeldes hätte außerdem berücksichtigt werden müssen, dass über den AdV-Antrag der Klägerin erst nach Ablauf der Vorlagefrist entschieden wurde.
Das Gericht könne nur die Ermessensentscheidung des FA in bestimmten Grenzen überprüfen und sein Ermessen nicht an die Stelle der Verwaltungsbehörde setzen. Der Bescheid sei aufzuheben – ungeachtet dessen, ob im Rahmen einer fehlerfreien Ermessensausübung die Festsetzung des Verzögerungsgeldes hätte gerechtfertigt sein können.
Betroffene Norm
§ 146 Abs. 2b AO
Streitjahr 2010
Vorinstanz
Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.05.2011, 13 K 13246/10, EFG 2011, S. 1945, siehe Deloitte Tax-News
Fundstelle
BFH, Urteil vom 24.04.2014, IV R 25/11
Pressemitteilung Nr. 56 vom 06.08.2014
Weitere Fundstellen
BFH, Urteil vom 28.08.2012, I R 10/12, BStBl II 2013, S. 266, siehe Deloitte Tax-News
BFH, Beschluss vom 16.06.2011, IV B 120/10, BStBl II 2011 S. 855, siehe Deloitte Tax-News
BMF-Schreiben vom 28.09.2011, Fragen-Antwort-Katalog zum Verzögerungsgeld nach § 146 Abs. 2b AO (Orientierungshilfe, keine Rechtsbindung)