EuGH: Enkelgesellschaft als Vertriebsniederlassung
Liegt eine feste Niederlassung bereits dann vor, wenn ein Steuerpflichtiger die personellen und technischen Ressourcen eines verbundenen Unternehmens in einem anderen Mitgliedstaat nutzt?
Hintergrund
Die Frage, wann eine feste Niederlassung durch eine verbundene Einrichtung vorliegt, ist entscheidend für den Ort der Dienstleistung und die damit verbundene Steuerpflicht. Der Begriff der festen Niederlassung und die Frage, wann eine solche vorliegt, ist auch nach den jüngsten EuGH Urteilen etwa in den Rechtssachen Titanium (EuGH Urt. v. 03.06.22, C-931/19) und Dong Yang (EuGH Urt. v. 07.05.2020, C-547/18) nicht abschließend geklärt. Bei der Rechtsanwendung führt das zu Unsicherheiten. Nach Art. 44 MwStSystRL gilt als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat, es sei denn, die Dienstleistungen werden an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen erbracht, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist. In letzterem Fall ist der Ort der Dienstleistung der Ort der festen Niederlassung. Nach Art. 11 DVO (EU) Nr. 282/2011 und der EuGH Rechtsprechung (vgl. u.a. EuGH Urt. v. 16.10.2014, C-605/12) gilt als feste Niederlassung jede Einrichtung, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit sowie eine Struktur aufweist, die es ihr von der personellen und technischen Ausstattung her erlaubt, Dienstleistungen, die für den eigenen Bedarf dieser Niederlassung erbracht werden, zu empfangen und dort zu verwenden.
Gleichwohl folgt allein aus dem Umstand, dass eine Gesellschaft eine Tochtergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat besitzt, nicht, dass letztere eine feste Niederlassung darstellt (dazu EuGH Urt. v. 07.05.2020, C-547/18, Dong Yang). Wie aber zu verfahren ist, wenn eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft nach den Verträgen mit der Muttergesellschaft ihre personelle und technischen Ausstattung der Muttergesellschaft zur Verfügung stellt, und ihr exklusiv Marketing-Regulierungs-, Werbe- und Vertretungsdienstleistungen erbringt, die geeignet sind, unmittelbar das Volumen der Verkäufe der Muttergesellschaft zu beeinflussen, war Gegenstand der vorliegenden Entscheidung.
Sachverhalt
Berlin Chemie Deutschland (BCD) ist ein in Deutschland ansässiges Unternehmen, das pharmazeutische Erzeugnisse in Rumänien von einem lokalen Lager aus an dort ansässige Kunden (Arzneimittelgroßhändler) vertreibt. Im Jahr 2011 gründete BCD die rumänische Enkelgesellschaft BCRO. Sie schlossen eine Vereinbarung über Marketing, Werbung und Regulierung, in der sich BCRO zu einer Vielzahl von Tätigkeiten verpflichtet. Dazu gehören unter anderem Marketing, Werbung, Einholung von Genehmigungen und Registrierung sowie die Pflege des Netzes von medizinischen Fachkräften für BCD, um den Absatzmarkt für die Produkte der BCD in Rumänien weiter auszubauen. Die Vertriebsdienstleistungen erbrachte BCRO mit durchschnittlich 150 Verkaufsagenten. Die rumänischen Mitarbeiter sind nicht befugt, Verträge im Namen von BCD abzuschließen.
BCRO stellte BCD für ihre Tätigkeiten monatliche Rechnungen unter Anwendung des Reverse-Charge Verfahrens (Re ohne USt-Ausweis) aus, da sie davon ausging, dass die Leistungen für ihre Muttergesellschaft am Empfängerort in Deutschland steuerbar seien. Demgegenüber meinten die rumänischen Steuerbehörden, dass die Dienstleistungen in Rumänien steuerpflichtig sind, da BCD am Unternehmenssitz der BCRO eine feste Niederlassung unterhält, die von BCRO erbrachte Leistungen bezieht.
Dementsprechend erließen die Steuerbehörden einen Bescheid, in dem sie die Zahlung von inländischer MwSt, Zinsen und Bußgeldern forderte, was einen Rechtsstreit auslöste.
Entscheidung
Art. 44 MwStSystRL und Art. 11 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates sind dahin auszulegen, dass eine Gesellschaft mit Sitz in einem Mitgliedstaat nicht deshalb über eine feste Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat verfügt, weil diese Gesellschaft dort eine Tochtergesellschaft hat, die ihr personelle und technische Ausstattung gemäß Verträgen zur Verfügung stellt, nach deren Maßgabe sie ihr exklusiv Marketing‑, Regulierungs‑, Werbe- und Vertretungsdienstleistungen erbringt, die geeignet sind, unmittelbar das Volumen ihrer Verkäufe zu beeinflussen.
Anmerkung
Wirft eine Sache keine neuen Rechtsfragen auf, so entscheidet der EuGH nach Anhörung des Generalanwalts ohne Schlussanträge. In der vorliegenden Rechtssache war dies der Fall. Der EuGH hatte bereits in der Entscheidung Dong Yang (a.a.O.) entschieden, dass allein der Besitz einer Tochtergesellschaft in einem anderen EU-Mitgliedstaat nicht zur Begründung einer festen Niederlassung ausreicht. Entscheidend für das Vorliegen einer festen Niederlassung bleibt die wirtschaftliche und geschäftliche Realität. Es ist nicht erforderlich, dass dem Steuerpflichtigen die personellen und technischen Ausstattungen selbst gehören, sondern nur, dass er über selbige verfügen kann, als ob es seine eigenen wären. Im Ergebnis wies der EuGH die Rechtssache zur Überprüfung an das vorlegende Gericht zurück, gab aber Hinweise, wie der Begriff der festen Niederlassung unter Zugrundelegung seiner Rechtsprechung zu verstehen ist.
Die Entscheidung steht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH und bestätigt die aktuellen BFH-Rechtsprechung (u.a. BFH Urt. v. 15.2.2017, XI R 21/15). Aus Sicht von international tätigen Unternehmen mit Tochter- und/oder auch Enkelgesellschaften in anderen Mitgliedstaaten ist die Entscheidung zu begrüßen, da der Beurteilung des Vorliegens einer festen Niederlassung restriktiv ausgelegt wird. Für eine rechtssichere Handhabung wäre es dennoch wünschenswert, die Frage, wann eine Muttergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat eine feste Niederlassung begründet bzw. welche zusätzlichen Voraussetzungen, neben dem Zugriff auf personelle und technische Ressourcen, erfüllt sein müssen, damit eine feste Niederlassung vorliegt, wäre höchstrichterlich abschließend entschieden.
Betroffene Normen
Art. 44 MwStSystRL; Art. 11 Abs. 1 DVO (EU) 282/2011
Fundstelle
EuGH, Urteil vom 07.04.2022, C-333/20