EuGH: Fremdgeschäftsführer und Praktikanten sind Arbeitnehmer im Sinne von § 17 KSchG
Nach Auffassung des EuGH sind bei einer Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 KSchG sowohl Fremdgeschäftsführer einer GmbH als auch Praktikanten zu berücksichtigen: Beide sind demnach Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinn. Der EuGH bestätigt damit seine Danosa-Rechtsprechung zum unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff.
Sachverhalt
Der klagende Arbeitnehmer war seit dem 01.04.2011 als Techniker bei einem Abbruchunternehmen beschäftigt. Der Arbeitgeber kündigte zum 15.02.2013 alle Arbeitsverhältnisse am Standort und stellte den Betrieb vollständig ein. Eine Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit gab der Arbeitgeber nicht ab. In dem Betrieb waren neben dem Kläger 18 weitere Personen beschäftigt. Dazu zählte auch ein Mitarbeiter, der erst kurz zuvor gekündigt hatte und nach Auffassung des Arbeitsgerichts als „regelmäßig Beschäftigter“ im Sinne von § 17 KSchG zu betrachten war. Neben diesen 19 Mitarbeitern war im Betrieb eine Praktikantin beschäftigt, die eine Umschulungsmaßnahme zur Bürokauffrau absolvierte, welche vom Jobcenter gefördert wurde und bei der die Ausbildungsvergütung unmittelbar durch die Bundesagentur für Arbeit gezahlt wurde. Der Betrieb wurde durch den Geschäftsführer der GmbH geleitet, der keine Anteile an der Gesellschaft hielt und unmittelbar den Weisungen der Gesellschafter unterworfen war.
Der Kläger argumentierte im Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht Verden, dass sowohl die Praktikantin als auch der Geschäftsführer als Arbeitnehmer im Sinne von § 17 KSchG anzusehen seien, sodass die Schwelle von 21 Arbeitnehmern im Sinne von § 17 Abs. 1 Nr. 1 KSchG erreicht gewesen sei und eine Massenentlassungsanzeige zwingend hätte abgegeben werden müssen. Ohne diese Massenentlassungsanzeige sei die Kündigung unwirksam.
Das Arbeitsgericht setzte den Rechtsstreit aus und legte dem EuGH den Sachverhalt im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens mit den Fragen zur Entscheidung vor, ob ein Fremdgeschäftsführer einer GmbH sowie eine durch öffentliche Stellen finanzierte Umschülerin als Arbeitnehmer im Sinne von § 17 KSchG zu behandeln seien. Sofern hier beides anzunehmen sei, wäre die Schwelle von 21 Arbeitnehmern im Sinne von § 17 Abs. 1 Nr. 1 KSchG erreicht und der Arbeitgeber hätte vor Ausspruch der Kündigungen eine Massenentlassungsanzeige abgeben müssen.
Entscheidung
Der EuGH beurteilt sowohl Praktikanten als auch Fremdgeschäftsführer einer GmbH als Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinn:
(a) Hinsichtlich der Praktikanten kam der EuGH insoweit zu keiner überraschenden Wertung: Auch in seiner bisherigen Rechtsprechung hat der EuGH festgestellt, dass die zur Berufsbildung Beschäftigten Arbeitnehmereigenschaft im unionsrechtlichen Sinn besitzen, selbst wenn sie mit geringerer Produktivität arbeiteten und teilweise sogar von öffentlichen Stellen bezahlt werden würden und daher keine Vergütung durch ihren Arbeitgeber erhielten. Dies folge auch aus dem Schutzzweck der Massenentlassungsrichtlinie. Auch bei § 17 KSchG seien Praktikanten demnach Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinn.
(b) Ebenfalls nicht vollständig neu ist die rechtliche Wertung des EuGH, dass Fremdgeschäftsführer einer GmbH Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinn sein können. Bereits im Rahmen seiner Danosa-Entscheidung im Jahr 2010, bei dem der EuGH die Frage zu klären hatte, ob Fremdgeschäftsführerinnen einer GmbH durch die Richtlinie zum Mutterschutz vor einer Abberufung als Geschäftsführerinnen während der Schwangerschaft geschützt sind, hat der Gerichtshof die Kriterien festgelegt, unter welchen Voraussetzungen Mitglieder der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft als „Arbeitnehmer“ im Sinne des Unionsrecht gelten. Dabei stellt der EuGH im Wesentlichen darauf ab, ob der Geschäftsführer den Weisungen oder der Aufsicht eines anderen Organs der Gesellschaft unterworfen ist, ein wiederkehrendes Einkommen vereinbart ist und eine Beteiligung am Unternehmen nicht vorliegt, wobei allein der Umstand der fehlenden Beteiligung am Unternehmen nicht entscheidend sei. Unschädlich ist, dass dem (Fremd-)Geschäftsführer grundsätzliche größere Handlungsspielräume im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit zustehen, als einem „normalen“ Arbeitnehmer, sofern er dennoch den Weisungen der Gesellschafter unterworfen ist und insbesondere seine Organstellung ohne weitere Gründe beendet werden und er gegen seinen Willen als Geschäftsführer abberufen werden kann. Sind alle diese Aspekte gegeben, gelten Fremdgeschäftsführer einer GmbH als Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinn. Diese Grundsätze wendet der EuGH auch für die Auslegung der Massenentlassungsrichtlinie an.
Der EuGH betont in seiner Entscheidung, dass die Einordnung als Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinn nicht allein dem Schutz des Fremdgeschäftsführers, sondern vor allem wegen des Schutzzwecks der Richtlinie auch dem Schutz der weiteren im Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer diene, denen die Rechte, die ihnen nach der Richtlinie zustehen, anderenfalls möglicherweise vorenthalten werden. Eine weite Auslegung sei deshalb angezeigt, um den Zweck der Richtlinie bestmöglich zu erreichen.
Ein Fremdgeschäftsführer einer deutschen GmbH, auf den die obigen Aspekte zutreffen, ist somit als Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinn zu betrachten.
► Die Auslegung der Richtlinie zur Massenentlassung ergibt demnach, dass das vorlegende Arbeitsgericht bei seiner Entscheidung im konkreten Fall sowohl die Praktikantin als auch den Fremdgeschäftsführer entgegen § 17 Absatz 5 Nr. 1 KSchG als Arbeitnehmer berücksichtigen muss.
Betroffene Normen
§ 17 KSchG, Richtlinie 98/59/EG
Anmerkung
Mit der vorliegenden Entscheidung bestätigt der EuGH seine Danosa-Rechtsprechung zur rechtlichen Einordnung von Fremdgeschäftsführern und schafft einen weiteren Bereich, in dem mitgliedstaatlicher und unionsrechtlicher Arbeitnehmerbegriff auseinanderfallen. Im selben Gesetz ist der Fremdgeschäftsführer unterschiedlich zu bewerten: Zwar wird er selbst nicht durch das KSchG geschützt, denn auf Organe von juristischen Personen, ist der erste Abschnitt des KSchG gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG nicht anwendbar, doch ist er zum Schutz der übrigen Arbeitnehmer bei § 17 KSchG mitzuzählen, obwohl der nationale Gesetzgeber in § 17 Absatz 5 Nr. 1 KSchG das Gegenteil gesetzlich festgeschrieben hat.
Gleichwohl bedeutet diese Entscheidung nicht, dass der Fremdgeschäftsführer per se auch nach mitgliedstaatlichem Recht stets als Arbeitnehmer zu betrachten ist. Vielmehr ist ein weiterer Bereich geschaffen, in dem der Fremdgeschäftsführer auf Grund der unionsrechtlichen Auslegung ausnahmsweise als Arbeitnehmer anzusehen ist. Es ergibt sich eine fortschreitende Divergenz der Stellung der Fremdgeschäftsführer im unionsrechtlichen und mitgliedstaatlichen Sinn und es bleibt abzuwarten, in welchen unionsrechtlich geprägten Bereichen des Arbeitsrechts, in denen die jeweilige Richtlinie den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff verwendet, diese Rechtsprechung durch den EuGH fortgeführt werden wird, sodass beispielsweise auch im Urlaubsrecht oder im Teilzeit- und Befristungsrecht eine ähnliche Auslegung „drohen“ könnte.
Für den Fall einer Massenentlassung ist damit in der Zukunft darauf zu achten, dass auch Praktikanten und Fremdgeschäftsführer bei § 17 KSchG mitzuzählen sind und insoweit § 17 Absatz 5 Nr. 1 KSchG unanwendbar ist. Gerade die Folge, dass bei fehlender Massenentlassungsanzeige die Kündigung unwirksam ist, sofern sich der Arbeitnehmer binnen der Drei-Wochen-Frist aus §§ 4, 7 KSchG arbeitsgerichtlich dagegen wehrt, sorgt dafür, dass im Zweifel eher eine Anzeige im Sinne von § 17 KSchG zu fertigen sein wird. Es ist nach herrschender Auffassung kein „Nachschieben“ der Anzeige möglich, sodass die Kündigungen nach der Nachholung der Anzeige erneut ausgesprochen werden müssen und die Arbeitnehmer ggf. länger zu bezahlen sind.
Zwar hat sich der EuGH bisher nur zu Fremdgeschäftsführern geäußert, doch könnte auch bei Minderheits-Geschäftsführern eine ähnliche Auslegung durch den EuGH denkbar sein, wenn die Geschäftsführer keine nennenswerten Anteile an der Gesellschaft halten, den Weisungen der übrigen Gesellschafter unterliegen und auf eine drohende Abberufung keinen Einfluss ausüben können. Wie der EuGH betont, sei die fehlende Beteiligung alleine nicht entscheidend für die rechtliche Einordnung des Geschäftsführers als Arbeitnehmer, sodass womöglich eine ähnliche Bewertung zum Schutz von Gesellschaftergeschäftsführern mit Minderheitsbeteiligung denkbar wäre.
Vorinstanzen
Arbeitsgericht Verden, Beschluss vom 06.05.2014 – 1 Ca 35/13
Fundstelle
• Balkaya-Entscheidung: EuGH, Urteil vom 09.07.2015 – C-229/14 (Balkaya/Kiesel Abbruch- und Recycling Technik)
• Danosa-Entscheidung: EuGH, Urteil vom 11.11.2010 – C-232/09 (Danosa/LKB Līzings SIA)