BVerfG-Vorlage: BFH hält Zinssatz für Aussetzungszinsen für verfassungswidrig
Der BFH hält den gesetzlichen Zinssatz von 6 Prozent p.a. für sog. Aussetzungszinsen für verfassungswidrig. Er hat daher das Bundesverfassungsgericht angerufen.
Sachverhalt
Der Kläger hat seinen Einkommensteuerbescheid 2012 angefochten. Dessen Vollziehung setzte das Finanzamt aus. Die Klage war erfolglos. Aussetzungszinsen von einhalb Prozent wurden für 78 Monate festgesetzt, u.a. für den Zeitraum von 01.01.2019 bis zum 15.04.2021. Der Kläger wandte sich im Klageverfahren gegen die Zinsfestsetzung. Das FG hat die Klage abgewiesen.
Entscheidung
Der BFH ist entgegen der Auffassung des FG davon überzeugt, dass der Zinssatz bei Aussetzung der Vollziehung (AdV) gem. § 237 i.V.m. § 238 Abs. 1 S. 1 AO insoweit der Höhe nach verfassungswidrig ist, als der Zinsberechnung für die AdV zwischen dem 01.01.2019 und dem 15.04.2021 ein Zinssatz von einhalb Prozent pro Monat zugrunde gelegt wird. Zumindest während einer anhaltenden strukturellen Niedrigzinsphase ist der gesetzliche Zinssatz der Höhe nach nach Ansicht des BFH evident nicht (mehr) erforderlich, um den durch eine spätere Zahlung typischerweise erzielbaren Liquiditätsvorteil abzuschöpfen.
Das Revisionsverfahren wird ausgesetzt und eine Entscheidung des BVerfG eingeholt.
AdV
Einspruch und Klage haben im Steuerrecht grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung, d.h. die Erhebung einer Abgabe wird nicht aufgehalten und der Steuerpflichtige muss die festgesetzte Steuer zunächst zahlen. Die aufschiebende Wirkung von Einspruch und Klage kann aber in einem summarischen Verfahren auf Antrag bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids von Finanzamt oder Finanzgericht gesondert durch AdV angeordnet werden. Für den Steuerpflichtigen bedeutet das einerseits, dass er die Steuer zunächst nicht zahlen muss. Andererseits droht ihm eine Belastung mit Zinsen, wenn sein Rechtsmittel endgültig ohne Erfolg bleibt und er die Steuer „nachträglich“ zahlen muss. Er hat dann nämlich für die Dauer der AdV und in Höhe des ausgesetzten Steuerbetrags Zinsen in Höhe von einhalb Prozent pro Monat, also 6 % pro Jahr zu entrichten (Aussetzungszinsen, § 237 i.V.m. 238 Abs. 1 S. 1 AO).
Höhe des Zinssatzes
§ 238 AO regelt die Höhe des Zinssatzes sowie die Berechnung der Zinsen für alle Verzinsungstatbestände der Abgabenordnung. Zinsen fallen grundsätzlich nur für volle Monate nach Beginn des Zinslaufs an. Angefangene Monate bleiben außer Ansatz (§ 238 Abs. 1 S. 2 AO). Der Zinssatz beträgt grundsätzlich einhalb Prozent pro Monat (§ 238 Abs. 1 S. 1 AO).
Der Zinssatz von einhalb Prozent pro Monat galt seit der bundesrechtlichen Einführung von Zinsen im Steuerschuldverhältnis durch das Steueränderungsgesetz 1961 vom 13.07.1961 (BGBl I 1961, 981) zunächst einheitlich und unverändert für alle Verzinsungstatbestände der Abgabenordnung.
Entscheidung des BVerfG zur Vollverzinsung
Mit Beschluss vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 siehe Deloitte Tax-News) hat das BVerfG § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 S. 1 AO insoweit für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt, als der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 ein Zinssatz von einhalb Prozent pro Monat zugrunde gelegt wird. Das BVerfG hat die Unvereinbarkeitserklärung ausdrücklich nicht auf andere Verzinsungstatbestände der Abgabenordnung ausgedehnt. Auch hat es entschieden, dass das bisherige Recht für Zinsen gemäß § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 S. 1 AO für bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume weiterhin anwendbar ist. Es hat den Gesetzgeber verpflichtet, bis zum 31.07.2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen, die sich rückwirkend auf alle Verzinsungszeiträume nach dem Jahr 2018 erstreckt und insoweit auch alle noch nicht bestandskräftigen Hoheitsakte erfasst.
Im Rahmen des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 12.07.2022 (BGBl I 2022, 1142, 1142) ist der Gesetzgeber dem Auftrag des BVerfG nachgekommen und hat den Zinssatz bei der Vollverzinsung neu geregelt. Rückwirkend zum 01.01.2019 beträgt der Zinssatz gemäß § 238 Abs. 1a AO für die Vollverzinsung nach § 233a AO nun 0,15 Prozent für jeden Monat, das heißt 1,8 Prozent für jedes Jahr.
Den Zinssatz für die Zinsen bei AdV und die anderen Teilverzinsungstatbestände hat der Gesetzgeber nicht angepasst. Seit dem 01.01.2019 gelten somit unterschiedliche Zinssätze für die Vollverzinsung und die anderen Zinstatbestände, einschließlich der Zinsen bei AdV.
Ungleichbehandlung
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Er gilt für ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche Begünstigungen (BVerfG-Beschluss vom 28.11.2023, 2 BvL 8/13).
Die Belastung mit AdV-Zinsen in Höhe von einhalb Prozent pro Monat gemäß § 237 i.V.m. § 238 Abs. 1 S. 1 AO führt zu einer der Höhe nach nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Steuerpflichtigen, die ein endgültig erfolglos gebliebenes Rechtsbehelfsverfahren oder eine endgültig erfolglos gebliebene Anfechtungsklage gegen einen der in § 237 Abs. 1 AO aufgezählten Verwaltungsakte betrieben haben.
Steuerpflichtige, bei denen der angefochtene Verwaltungsakt von der Vollziehung ausgesetzt war und die deshalb die fällige Steuer zunächst nicht entrichtet haben, müssen AdV-Zinsen in Höhe von einhalb Prozent pro Monat zahlen. Steuerpflichtige, bei denen die Vollziehung nicht ausgesetzt war und die die Steuerschuld beglichen haben, werden nicht mit AdV-Zinsen belastet. Diese Ungleichbehandlung ist zwar dem Grunde nach, aber nicht der Höhe nach gerechtfertigt.
Zudem werden seit dem 01.01.2019 Steuerpflichtige, die Zinsen schulden, weil sie die Steuer nach AdV nicht bezahlt haben, und Steuerpflichtige, die Nachzahlungszinsen entrichten müssen, weil ihre Steuerfestsetzung zu einem Unterschiedsbetrag (§ 233a Abs. 3 AO) geführt hat und sie die materiell-rechtlich von Anfang an geschuldete Steuer deshalb erst später zahlen müssen, ungleich behandelt. Denn Nachzahlungszinsen werden seit dem 01.01.2019 lediglich mit einem Zinssatz von 0,15 Prozent für jeden Monat, also 1,8 Prozent p.a. berechnet. Auch diese Zinssatzspreizung ist verfassungsrechtlich aus Sicht des BFH nicht gerechtfertigt und ist dahin aufzulösen, dass der Zinssatz bei den AdV-Zinsen verfassungswidrig zu hoch ist.
Unverhältnismäßigkeit des Zinssatzes bei AdV-Zinsen
Die Ungleichbehandlung entfällt nicht deshalb, weil die Steuerpflichtigen ihr im Prinzip ausweichen können. Die Ungleichbehandlung ist an einem am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab zu messen. Mit der Erhebung von AdV-Zinsen verfolgt der Gesetzgeber legitime Zwecke. In erster Linie geht es ihm darum, den durch die spätere Zahlung der Steuer typischerweise entstehenden Liquiditätsvorteil abzuschöpfen und hierfür ist die Erhebung von AdV-Zinsen ein geeignetes Mittel, so der BFH.
AdV-Zinsen in Höhe von einhalb Prozent pro Monat sind unter den zu beurteilenden Umständen (Niedrigzinsphase) aber im verfassungsrechtlichen Sinne nicht erforderlich, um den Liquiditätsvorteil abzuschöpfen. Die Höhe der AdV-Zinsen von einhalb Prozent pro Monat wäre dem BFH zufolge darüber hinaus auch unverhältnismäßig im engeren Sinne. Ist der gesetzliche Zinssatz verfassungsrechtlich schon nicht erforderlich, weil er die wirtschaftliche Realität evident verfehlt, kann seine Erhebung auch nicht im engeren Sinne verhältnismäßig sein. In der Niedrigzinsphase gewinnen die negativen Wirkungen der AdV-Zinsen an Gewicht und geraten letztlich außer Verhältnis zu den mit der Erhebung von AdV-Zinsen verfolgten Zwecken. Weitere Gründe, die den gesetzlichen Zinssatz von einhalb Prozent pro Monat bei AdV-Zinsen rechtfertigen könnten, sieht der BFH nicht.
Betroffene Normen
§ 237 i.V.m. § 238 Abs. 1 S. 1 AO
Streitjahre: 2019 bis 2021
Vorinstanz
Finanzgericht Münster, Urteil vom 08.03.2023, 6 K 2094/22 E, EFG 2023, S. 737
Fundstelle
BFH, Vorlagebeschluss vom 08.05.2024, VIII R 9/23, BVerfG-anhängig: 1 BvL 8/24
Pressemitteilung Nr. 034/24 vom 22.08.2024
Weitere Fundstellen
BVerfG-Beschluss vom 08.07.2021, 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 siehe Deloitte Tax-News
BFH, Urteil vom 25.04.2013, V R 29/11, BStBl II 2013, S. 767
BVerfG, Beschluss vom 28.11.2023, 2 BvL 8/13 siehe Deloitte Tax-News