BMF: Vorläufige Steuerfestsetzung im Hinblick auf anhängige Musterverfahren
Hintergrund
Mit Urteil vom 30.09.2010 (III R 39/08) hat der BFH Fragen zur inhaltlichen Bestimmtheit und zur Reichweite eines Vorläufigkeitsvermerks geklärt. Eine Steuerfestsetzung, die aufgrund der Prüfung der Vereinbarkeit des Steuergesetzes mit höherrangigem Recht als vorläufig festgesetzt wird, kann auch dann geändert werden, wenn das BVerfG oder der BFH eine verfassungskonforme Auslegung der Norm vornehmen. Der BFH stellt damit in seinem Urteil klar, dass kein Anlass mehr bestehe, Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO zusätzlich auf die Auslegung von Steuergesetzen durch den BFH gem. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AO zu stützen. Denn unabhängig davon, auf welche der genannten Normen Vorläufigkeitsvermerke gestützt werden, ändern Finanzämter vorläufige Steuerbescheide, wenn BVerfG oder BFH die entsprechenden Rechtsnormen entgegen der bisherigen Verwaltungsauffassung verfassungskonform auslegen. Ferner hat der BFH bekräftigt, dass es nicht erforderlich ist, die Musterverfahren mit Gericht und Aktenzeichen, die Anlass für die vorläufige Steuerfestsetzung sind, in den Vorläufigkeitsvermerken anzugeben.
Verwaltungsanweisung
In das BMF-Schreiben vom 16.05.2011 zur vorläufigen Steuerfestsetzung im Hinblick auf anhängige Musterverfahren, zum Ruhenlassen von Einspruchsverfahren und zur Aussetzung der Vollziehung wurde die o.g. BFH-Rechtsprechung eingearbeitet. Das Schreiben ersetzt das BMF-Schreiben vom 01.04.2009, das durch BMF-Schreiben vom 23.11.2009 geändert und dessen Anlage zuletzt durch BMF-Schreiben vom 11.05.2011 neu gefasst worden ist.
In Fällen, in denen mit einem Einspruch geltend gemacht wird, der Vorläufigkeitsvermerk berücksichtige nicht die aktuelle Anlage des BMF-Schreibens, ist dem Einspruch durch eine Erweiterung des Vorläufigkeitsvermerks abzuhelfen, sofern der Einwand begründet ist. Mit dieser Erweiterung ist das Einspruchsverfahren erledigt, falls nicht auch andere Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung erhoben werden. Wird gegen eine vorläufig durchgeführte Steuerfestsetzung Einspruch eingelegt und betrifft die vorgetragene Begründung des Einspruchs Fragen, die vom Vorläufigkeitsvermerk erfasst sind, ist der Einspruch insoweit zurückzuweisen.
Bei rechtsanhängigen Verfahren sind durch die jeweiligen Finanzbehörden vor Entscheidung des Gerichts die Steuerfestsetzungen hinsichtlich der anhängigen Verfahren vorläufig vorzunehmen. Dies gilt nicht, wenn Klage bzw. Rechtsmittel unzulässig sind oder sich gegen eine Einspruchsentscheidung richten. Eine Aussetzung der Vollziehung kommt nur in Betracht, soweit Anweisungen durch entsprechende Erlasse der Finanzverwaltung vorliegen.
Lt. Anlage zum BMF-Schreiben sind die Festsetzungen der Einkommensteuer hinsichtlich folgender Punkte gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung der Norm vorläufig vorzunehmen:
- Beschränkte Abziehbarkeit von Kinderbetreuungskosten (§ 4f, § 9 Abs. 5 S.1, § 10 Abs. 1 Nrn. 5 und 8 EStG) - für die Veranlagungszeiträume 2006 bis 2008 - sowie ((§ 9c, § 9 Abs. 5 S. 1 EStG) - für Veranlagungszeiträume ab 2009 –
- Nichtabziehbarkeit von Steuerberatungskosten als Sonderausgaben (Aufhebung des § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG durch das Gesetz zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm vom 22.12.2005, BGBl. I S. 3682)
- Beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3, 4, 4a EStG) für die Veranlagungszeiträume 2005 bis 2009
- Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften im Sinne des § 22 Nr. 1 S. 3 Buchst. a EStG für Veranlagungszeiträume ab 2005
- Besteuerung der Einkünfte aus Leibrenten im Sinne des § 22 Nr. 1 S. 3 Buchstabe a Doppelbuchst. aa EStG für Veranlagungszeiträume ab 2005
- Höhe der kindbezogenen Freibeträge nach § 32 Abs. 6 S. 1 und 2 EStG
- Höhe des Grundfreibetrags (§ 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EStG)
- Höhe des Freibetrags zur Abgeltung des Sonderbedarfs eines sich in Berufsausbildung befindenden, auswärtig untergebrachten, volljährigen Kindes (§ 33a Abs. 2 EStG) für Veranlagungszeiträume ab 2002.
Ferner sind im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten sämtliche Festsetzungen des Solidaritätszuschlags für die Veranlagungszeiträume ab 2005 hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 vorläufig vorzunehmen.
Betroffene Normen
§ 69 Abs. FGO, § 165 Abs. 1 AO, § 361 AO, § 363 Abs. 2 AO
Fundstelle
BMF, Schreiben vom 16.05.2011, IV A 3 – S 0338/07/10010
BFH, Urteil vom 30.09.2010, III R 39/08, BStBl 2011 II S. 11, siehe dazu in den Deloitte Tax-News
Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 12.12.2007, 7 K 249/07, EFG 2008, S. 1082, siehe dazu in den Deloitte Tax-News