BFH: Widerstreitende Steuerfestsetzungen innerhalb der EU
Ein Steuerbescheid kann auch dann nach Maßgabe widerstreitender Steuerfestsetzungen geändert werden, wenn der widerstreitende Steuerbescheid von der Behörde eines EU-Mitgliedstaats stammt.
Sachverhalt
Der Kläger wohnte in den Streitjahren (2005 und 2006) in den Niederlanden. In Deutschland unterlag er mit Einkünften aus selbständiger Arbeit der beschränkten Steuerpflicht. Seit 2004 bezog er eine Berufsunfähigkeitsrente, die in den Niederlanden zu versteuern war. Im Jahr 2009 beantragte der Kläger, die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2005 und 2006 nach § 174 AO zu ändern, da Beträge berücksichtigt seien, bei denen es sich um die in den Niederlanden zu versteuernden Rentenbezüge handele. Das Finanzamt lehnte die beantragte Änderung ab. Ein Einspruch des Klägers, der sein Begehren nunmehr auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO (neue Tatsachen) stützte, hatte ebenso wie die anschließend erhobene Klage keinen Erfolg.
Entscheidung
Die Revision ist begründet und führt zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kommt im Streitfall eine Änderung der Einkommensteuerbescheide gemäß § 174 Abs. 1 S. 1 AO in Betracht. Um beurteilen zu können, ob dessen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, bedarf es jedoch noch weiterer tatsächlicher Feststellungen.
Frei von Rechtsfehlern hat das FG entschieden, dass die vom Kläger begehrte Änderung der Steuerbescheide wegen nachträglich bekannt gewordener neuer Tatsachen nicht vorgenommen werden kann, da dem Kläger aufgrund der unrichtigen Angabe der Einkünfte ein grobes Verschulden anzulasten ist (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO).
Jedoch bietet § 174 Abs. 1 S. 1 AO (widerstreitende Steuerfestsetzungen) eine Grundlage für eine Änderung der Steuerbescheide zugunsten des Klägers. Diese Vorschrift setzt voraus, dass ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen; in diesem Fall ist der fehlerhafte Steuerbescheid auf Antrag aufzuheben oder zu ändern (§ 174 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Voraussetzungen dieser Korrekturvorschrift würden hier vorliegen, wenn die dem Kläger in den Streitjahren zugeflossene Berufsunfähigkeitsrente nicht nur in den vom Finanzamt erlassenen Steuerbescheiden erfasst, sondern auch im Rahmen der in den Niederlanden vorgenommenen Besteuerung zuungunsten des Klägers berücksichtigt worden wäre.
Die Frage, ob der in § 174 AO verwendete Begriff "Steuerbescheid" nur nach inländischem Recht erlassene Verwaltungsakte oder auch damit vergleichbare Maßnahmen ausländischer Behörden umfasst, ist im Schrifttum streitig. Im Lichte der unionsrechtlichen Grundfreiheiten erscheint dem Senat eine Auslegung des § 174 Abs. 1 AO dahingehend, dass ein fehlerhafter inländischer Steuerbescheid auch dann geändert werden kann, wenn der widerstreitende Steuerbescheid von der Behörde eines Mitgliedstaats der EU erlassen wurde, vorzugswürdig. Selbst wenn - wie im Streitfall - keine der speziellen Grundfreiheiten (z.B. Niederlassungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit oder Kapitalverkehrsfreiheit) einschlägig ist, ist zumindest der Anwendungsbereich des Art. 18 EG (jetzt: Art. 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABlEU 2008, Nr. C 115, S. 47) berührt, der jedem Unionsbürger das Recht gewährt, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Diese Vorschrift vermittelt eine allgemeine Grundfreiheit, die auch bei der Wahrnehmung von Besteuerungsbefugnissen zu beachten ist (EuGH-Urteil vom 11.09.2007). Ein Ausschluss der Korrekturmöglichkeit nach § 174 Abs. 1 AO bei Widerstreit eines inländischen Steuerbescheids mit einem solchen aus einem EU-Mitgliedstaat würde eine Beschränkung der jeweils einschlägigen Grundfreiheit darstellen. Denn die Steuerpflichtigen, unabhängig von ihrer Nationalität und Ansässigkeit, die international aktiv und dadurch in mehr als einem Mitgliedstaat steuerpflichtig sind, würden gegenüber solchen Steuerpflichtigen benachteiligt, deren Aktivitäten sich auf das Inland beschränken und die deshalb mit ihren Steuerangelegenheiten nur einem Fiskus unterworfen sind. Ein triftiger Grund dafür, widerstreitende Steuerbescheide ausländischer Behörden nicht zum Anlass für Korrekturen nach § 174 Abs. 1 AO zu nehmen, ist nicht ersichtlich.
Das FG hält einen "Widerstreit" im Verhältnis der beiderseitigen Steuerfestsetzungen nicht für gegeben, weil das Kollisionsverhältnis zwischen dem Steuerzugriff des Wohnsitzstaats und dem Staat, der im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht besteuert, durch die Regelungen in den Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung oder durch Anrechnung gemäß § 34c EStG 2002 aufgelöst werde. Dem vermag der Senat jedenfalls in Bezug auf Staaten, mit denen DBA geschlossen worden sind, nicht beizupflichten. Denn die DBA-Vorschriften, die einen parallelen Zugriff beider Vertragsstaaten auf das gleiche Steuersubstrat verhindern, sind Bestandteil der materiellen Rechtslage, aufgrund derer der "Widerstreit" zu beurteilen ist. Die abkommensrechtliche Verteilung der Besteuerungskompetenzen darf deshalb bei der Prüfung des Widerstreits nicht außer Acht gelassen werden.
Die Sache ist noch nicht entscheidungsreif. Das FG hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Zahlungen in den Niederlanden tatsächlich besteuert worden sind. Da dies aber Voraussetzung für eine Änderung der streitbefangenen Steuerbescheide nach § 174 Abs. 1 AO ist, wird das FG die erforderlichen Feststellungen im zweiten Rechtsgang zu treffen haben.
Betroffene Norm
§ 174 Abs. 1 AO
Streitjahre 2005 und 2006
Vorinstanz
Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 07.07.2010, 7 K 369/10 E, EFG 2010, S. 2045
Fundstelle
BFH, Urteil vom 12.05.2012, I R 73/10
Weitere Fundstellen
EuGH, Urteil vom 11.09.2007, C-76/05 "Schwarz und Gootjes-Schwarz", Slg. 2007, I-6849, BFH/NV 2008, Beilage 1