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15.05.2017
Unternehmensteuer

BVerfG: Verfassungswidrigkeit des Verlustabzugs bei Kapitalgesellschaften

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass § 8c S. 1 KStG a.F. bzw. § 8c Abs. 1 S. 1 KStG in der bis 31.12.2015 geltenden Fassung, wonach nicht genutzte Verluste einer Kapitalgesellschaft anteilig wegfallen, wenn innerhalb von fünf Jahren mehr als 25 % und bis zu 50 % der Anteile an einen Erwerber übertragen werden, verfassungswidrig ist.

Sachverhalt

Die Klägerin, eine in 2006 gegründete Kapitalgesellschaft mit zwei Gesellschaftern, erzielte in den Jahren 2006 und 2007 Verluste, im Streitjahr 2008 erstmalig Gewinne. Ende 2008 beschloss die Klägerin wegen der Kündigung eines Kooperationspartners ihre Liquidation. Ebenfalls in 2008 veräußerte einer der beiden Gesellschafter seine 48%-Beteiligung an einen Dritten.

Das Finanzamt kürzte bei der Körperschaftsteuerveranlagung der Gesellschaft für 2008 gemäß § 8c S. 1 KStG die zum 31.12.2007 verbleibenden Verluste um den prozentual auf diesen Gesellschafter entfallenden Anteil. Mit der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage berief sich die Klägerin auf die Verfassungswidrigkeit von § 8c KStG. Das Finanzgericht Hamburg hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 8c S. 1 KStG zur Entscheidung vorgelegt.

Entscheidung

Mit dem am 12.05.2017 veröffentlichten Beschluss vom 29.03.2017 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden, dass § 8c S. 1 KStG a.F. – wonach nicht genutzte Verluste einer Kapitalgesellschaft anteilig wegfallen, wenn innerhalb von fünf Jahren mehr als 25 % und bis zu 50 % der Anteile an einen Erwerber übertragen werden (schädlicher Beteiligungserwerb) – mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar ist.
Gleiches gilt für die wortlautidentische Regelung in § 8c Abs. 1 S. 1 KStG in ihrer bis 31.12.2015 geltenden Fassung.

Begründung

Es fehle ein sachlich einleuchtender Grund für die Ungleichbehandlung von Kapitalgesellschaften bei der Bestimmung ihrer steuerpflichtigen Einkünfte im Fall eines sog. schädlichen Beteiligungserwerbs. 

  • Der Gesetzgeber habe mit der Vorschrift des § 8c S. 1 KStG keine realitätsgerechte Typisierung des Missbrauchsfalls geschaffen. Der Erwerb einer Beteiligung von mehr als 25 % bis 50 % an einer Kapitalgesellschaft allein indiziere – ohne dass weitere Voraussetzungen, die an das Sachsubstrat der Gesellschaft wie deren Betriebsvermögen und/oder Unternehmensgegenstand anknüpfen, vorliegen – keine missbräuchliche Gestaltung bzw. führe auch nicht zu einer Änderung der wirtschaftlichen Identität der Kapitalgesellschaft. Zwar begründe der Erwerb einer Beteiligung von mehr als 25 % der Anteile an einer Kapitalgesellschaft gesellschaftsrechtlich eine Sperrminorität, aber nur eine Mehrheitsbeteiligung ermögliche es dem Anteilserwerber, auf die Kapitalgesellschaft unmittelbar maßgebend Einfluss zu nehmen und die Verluste durch entsprechende unternehmerische Entscheidungen zu eigenen Zwecke zu nutzen. Zudem könne eine Änderung der wirtschaftlichen Identität erst anhand der Maßnahmen beurteilt werden, die die Anteilseigner (mehrheitlich) tatsächlich treffen. Ob bei einer Übertragung von mehr als 50 % der Anteile stets eine Änderung der wirtschaftlichen Identität der Kapitalgesellschaft vorliege, bedürfe im vorliegenden Fall keiner Entscheidung.
  • Der dem § 8c S. 1 KStG innewohnender Gedanke der Unternehmeridentität, der in einem Einzelaspekt eine Annäherung an die transparenten Besteuerung von Personengesellschaftern vorsieht, widerspreche der Entscheidung des Gesetzgebers für eine gesonderte Besteuerung der Körperschaft und sei folglich systemwidrig.

Ergebnis

Verfassungswidrige Regelung
Die vom BVerfG festgestellte Verfassungswidrigkeit betrifft

  • schädliche Beteiligungserwerbe von mehr als 25 % bis 50 % der Anteile. Das BVerfG lässt in der o.g. Entscheidung ausdrücklich offen, ob diese Beurteilung auch für schädliche Beteiligungserwerbe von mehr als 50 % der Anteile gilt. Allerdings hat das FG Hamburg mit Beschluss vom 29.08.2017 (2 K 245/17) diese Frage nun auch dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Das FG ist von Verfassungswidrigkeit der Regelung bei Anteilsübertragungen über 50% überzeugt. Die Frage ist derzeit auch beim BFH anhängig, der das Verfahren im Hinblick auf die Vorlage des FG Hamburg ausgesetzt hat (vgl. BFH-Beschluss vom 28.10.2011, I R 31/11).
  • unmittelbare Übertragungen von Anteilsrechten an Kapitalgesellschaften. Eine Entscheidung darüber, welche sonstigen Körperschaften und Rechtsübertragungen dem Anwendungsbereich von § 8c KStG unterfallen, war nicht erforderlich. Das BVerfG macht auch keine Aussagen hinsichtlich des Anwendungsbereichs des § 8c S. 1 KStG auf mittelbare Beteiligungen und Fragen des hiermit einhergehenden drohenden Vollzugsdefizits. Die Finanzverwaltung wendet § 8c Satz 1 bzw. Abs. 1 S. 1 KStG (schädliche Beteiligungserwerbe von mehr als 25 % bis 50 % der Anteile) vorerst bis zu einer gesetzlichen Neuregelung nur auf unmittelbare Beteiligungserwerbe von Anteilen an Kapitalgesellschaften vor dem 01.01.2016 nicht an (vgl. BMF-Schreiben vom 28.11.2017, siehe Deloitte Tax News).
  • die Regelung des § 8c S. 1 KStG a.F. (d.h. in der Fassung des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008; anzuwenden für VZ 2008 und Anteilsübertragungen, die nach dem 31.12.2007 stattfinden) und die wortlautidentische Regelung in § 8c Abs. 1 S. 1 KStG (ebenfalls anzuwenden ab VZ 2008) in ihrer bis 31.12.2015 geltenden Fassung. Durch die Ergänzung der Vorschrift um eine Sanierungsklausel (§ 8c Abs. 1a KStG) sowie um eine Konzernklausel (§ 8c Abs. 1 S. 5 KStG) und eine Stille-Reserven-Klausel (§ 8c Abs. 1 S. 6 bis 9 KStG) habe sich an der Verfassungswidrigkeit von § 8c S. 1 KStG a.F. bzw. § 8c Abs. 1 S. KStG nichts geändert. Offen sei, ob durch die Einführung des § 8d KStG (vgl. Gesetz zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften vom 20.12.2016, BGBl. I S. 2998) mit Wirkung zum 01.01.2016 die aktuelle Fassung des § 8c Abs. 1 S. 1 KStG den Anforderungen von Art. 3 Abs. 1 GG genüge. Jedenfalls sei sie nicht mehr ohne Weiteres aus denselben Gründen mit dem Grundgesetz unvereinbar wie vor dem Inkrafttreten von § 8d KStG, so dass eine Erstreckung der Unvereinbarkeitserklärung über diesen Zeitpunkt hinaus nicht in Betracht komme.
  • auch Verlustvorträge für Zwecke der Gewerbesteuer, da die Entscheidung wegen § 10a S. 10 GewStG, der auf § 8c KStG und § 8d KStG verweist, auch für die Gewerbesteuer gilt.

Die Feststellung des BVerfG erfasst zumindest alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen, die auf der für verfassungswidrig erklärten Regelung beruhen. Gerichte und Verwaltungsbehörden dürfen die Norm im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit nicht mehr anwenden, laufende Verfahren sind auszusetzen. 

Gesetzliche Neuregelung
Der Gesetzgeber hat bis zum 31.12.2018 den Verlustabzug für Kapitalgesellschaften bei einer Anteilsübertragung von mehr als 25 % bis zu 50 % neu zu regeln. Die Aufforderung zur Neuregelung gilt rückwirkend für alle seit dem 01.01.2008 bis zum 31.12.2015 geltenden Gesetzesfassungen. Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, tritt am 01.01.2019 im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit rückwirkend zum 01.01.2008 die Nichtigkeit von § 8c S. 1 KStG (bzw. § 8c Abs. 1 S. 1 KStG) ein.

Betroffene Normen

 § 8c S. 1 KStG in der Fassung des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 (§ 8c Abs. 1 S. 1 KStG in der bis 31.12.2015 geltenden Fassung), Art. 3 Abs. 1 GG, § 10d EStG
Streitjahr 2008

Anmerkungen

FG Hamburg vom 29.08.2017
Mit Beschluss vom 29.08.2017 hat das FG Hamburg das BVerfG zu der Frage angerufen, ob § 8c S. 2 KStG a.F. (jetzt: § 8c Abs. 1 S. 2 KStG) verfassungswidrig ist. Das FG ist von der Verfassungswidrigkeit der Regelung bei Anteilsübertragungen über 50% überzeugt. Siehe Deloitte Tax-News

BMF-Schreiben vom 28.11.2017 und gleich lautender Erlass der obersten Finanzbehörden vom 29.11.2017:
Das BMF hat am 28.11.2017 das finale Anwendungsschreiben zur Verlustabzugsbeschränkung gem. § 8c KStG veröffentlicht. Die Finanzverwaltung wendet § 8c Satz 1 bzw. Abs. 1 S. 1 KStG (schädliche Beteiligungserwerbe von mehr als 25 % bis 50 % der Anteile) vorerst - bis zu einer gesetzlichen Neuregelung- nur auf unmittelbare Beteiligungserwerbe von Anteilen an Kapitalgesellschaften vor dem 01.01.2016 nicht an (vgl. BMF-Schreiben vom 28.11.2017, siehe Deloitte Tax News). Dies heißt im Umkehrschluss, dass die Finanzverwaltung § 8c KStG auf mittelbare Beteiligungserwerbe (auch vor dem 01.01.2016) von mehr als 25% bis 50% im Sinne von § 8c Abs. 1 S. 1 KStG und für unmittelbare und mittelbare Beteiligungserwerbe (auch vor dem 01.01.2016) von mehr als 50% im Sinne von § 8c Abs. 1 S. 2 KStG weiterhin anwendet.
Nach den gleich lautenden Erlassen der obersten Finanzbehörden der Länder vom 29.11.2017 finden die Grundsätze des o.g. BMF-Schreibens vom 28.11.2017 uneingeschränkt auch bei der Gewerbesteuer Anwendung.

Vorinstanz

FG Hamburg, Vorlagebeschluss vom 04.04.2011, 2 K 33/10, siehe Deloitte Tax-News 

Fundstelle

BVerfG, Beschluss vom 29.03.2017, 2 BvL 6/11
Pressemitteilung Nr. 34/2017 vom 12.05.2017

Weitere Fundstellen

BMF, Schreiben vom 28.11.2017, siehe Deloitte Tax News
Oberste Finanzbehörden der Länder, Schreiben vom 29.11.2017, siehe Deloitte Tax News
Finanzgericht Hamburg, Beschluss vom 29.08.2017, 2 K 245/17, siehe Deloitte Tax-News
BFH, Beschluss vom 28.10.2011, I R 31/11

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