BFH: Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags in den Jahren 2020 und 2021
Der Solidaritätszuschlag war in den Jahren 2020 und 2021 nicht verfassungswidrig. Denn der wiedervereinigungsbedingte erhöhte Finanzbedarf des Bundes besteht auch in den Jahren 2020 und 2021 fort. Nach Ablauf von 30 Jahren (seit der Einführung des Solidaritätszuschlags im Jahr 1995) ist allerdings der Gesetzgeber verfassungsrechtlich gehalten, die Erhebung der Ergänzungsabgabe erneut zu überprüfen.
Sachverhalt
Streitig ist, ob die Erhebung des Solidaritätszuschlags nach dem Solidaritätszuschlaggesetz 1995 (SolZG 1995) i.d.F. der Bekanntmachung der Neufassung des Solidaritätszuschlaggesetzes vom 15.10.2002 (BGBl I 2002, 4130), geändert durch Art. 4 des Zweiten Familienentlastungsgesetzes vom 01.12.2020 (BGBl I 2020, 2616), in 2020 und 2021 gegen Verfassungsrecht verstößt.
Die Kläger (Eheleute) beantragten die Herabsetzung der Vorauszahlungen auf den Solidaritätszuschlag ab 2020 auf 0 Euro mit der Begründung, dass die Aufbauhilfen für die neuen Bundesländer im Jahr 2019 ausgelaufen sind und der Solidaritätszuschlag als Ergänzungsabgabe nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG nur zur Abdeckung von Bedarfsspitzen erhoben werden dürfe und keine fortdauernde Erhebung mit dem Verfassungsrecht vereinbar sei. Dem widersprach das FG. Nach dem FG habe der Solidaritätszuschlag nicht mit Auslaufen des Solidarpakts II (und der Neuregelung des Länderfinanzausgleichs) seine Rechtfertigung verloren. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 14 GG läge ebenfalls nicht vor.
Entscheidung
Auch der BFH hält die Erhebung des Solidaritätszuschlags in den Jahren 2020 und 2021 als verfassungsgemäß. Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht sei nicht geboten.
Verfassungsgemäßes Zustandekommen des Solidaritätszuschlagsgesetz 1995
Der BFH beruft sich auf seine Rechtsprechung (vgl. BFH-Urteil vom 21.07.2011, II R 52/10, siehe Deloitte Tax News) und bestätigt, dass das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 sowohl formell als auch materiell verfassungsgemäß zustande gekommen ist.
Keine Verfassungswidrigkeit wegen fehlender Befristung der Ergänzungsabgabe
Nach dem BFH ist es verfassungsrechtlich nicht geboten, eine Ergänzungsabgabe von vornherein zu befristen oder sie nur für einen kurzen Zeitraum zu erheben (vgl. BVerfG-Beschluss vom 19.11.1999, 2 BvR 1167/96). So sei der Gesetzgeber verfassungsrechtlich auch nicht verpflichtet, das Solidaritätszuschlagsgesetz 1995 wegen der fehlenden Befristung mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 2020 aufzuheben. Das Solidaritätszuschlagsgesetz 1995 sei – jedenfalls im Streitzeitraum – auch nicht durch bloßen Zeitablauf oder veränderte tatsächliche Umstände verfassungswidrig geworden.
Keine Verfassungswidrigkeit wegen geänderter Verhältnisse
Allerdings könne eine verfassungsgemäß beschlossene Ergänzungsabgabe verfassungswidrig werden, wenn sich die Verhältnisse, die für ihre Einführung maßgebend waren, grundlegend ändern, z.B. weil der mit der Erhebung verfolgte Zweck erreicht ist und die Ergänzungsabgabe nicht wegen eines anderen Zwecks fortgeführt werden soll oder weil insoweit eine dauerhafte Finanzierungslücke entstanden ist. Die Verfassungsmäßigkeit der Ergänzungsabgabe werde in diesen Fällen aber erst zweifelhalft, wenn die Änderung der Verhältnisse eindeutig und offensichtlich feststeht (vgl. BFH-Urteil vom 21.07.2011, II R 52/10). Eine solche Änderung der Verhältnisse hatte der BFH zunächst für die Veranlagungszeiträume 2005 und 2007 (vgl. BFH-Urteil vom 21.07.2011, II R 52/10) und später für den Veranlagungszeitraum 2011 verneint (vgl. BFH-Urteile vom 14.11.2018, II R 63/15 und II R 64/15). Auch für die Streitjahre 2020 und 2021 gilt nach dem BFH – wenngleich weitere neun bzw. zehn Jahre verstrichen sind – im Ergebnis nichts anders.
Wiedervereinigungsbedingter erhöhter Finanzbedarf des Bundes (weiterhin) als Rechtsfertigungsgrund
Entgegen der überwiegenden Auffassung im Schrifttum kommt der BFH zu dem Schluss, dass die Rechtfertigung für die Erhebung der Ergänzungsabgabe für Veranlagungszeiträume ab 2020 nicht entfallen ist. Der wiedervereinigungsbedingte erhöhte Finanzbedarf des Bundes besteht auch in den Jahren 2020 und 2021 fort. Die Mittel, die bisher zur Überwindung der Folgen der deutschen Teilung aufgewendet worden sind, übersteigen das durch den Solidaritätszuschlag erzielte Aufkommen.
Verfassungswidrigkeit mit Ablauf von 30 Jahren (also ab 2024) möglich
Des Weiteren führt der eingetretene Zeitablauf seit Einführung des Solidaritätszuschlags 1995 von 26 (2020) bzw. 27 (2021) Jahren zu keinem anderen Ergebnis. Der potenzielle Mehrbedarf des Bundes wurde bei den Beratungen zum Finanzverfassungsgesetz berücksichtigt. Allerdings weist der BFH daraufhin, dass mit Ablauf von 30 Jahren der Gesetzgeber verfassungsrechtlich gehalten sein kann, zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung für die Erhebung der Ergänzungsabgabe auch unter nunmehr geänderten Umständen aufrechtzuerhalten oder die Ergänzungsabgabe aufzuheben ist (zur Prüfungspflicht bei einer Änderung der Verhältnisse bezogen auf eine Änderung des Zinsniveaus vgl. auch BFH-Beschluss vom 25.04.2018, IX B 21/18).
Auch die Staffelung des Solidaritätszuschlags ab 2021 ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt
90% der Steuerpflichtigen sind seit dem Veranlagungszeitraum 2021 vom Solidaritätszuschlag freigestellt. Diese Staffelung verstößt nach dem BFH nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG, da sie eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung darstellt. Der Finanzierungszweck als Hauptzweck der Abgabenerhebung schließe es nicht aus, dass der Gesetzgeber zugleich Lenkungszwecke und/oder sozialpolitische Zwecke verfolgt. Es liegen angemessene sachliche Gründe vor, die eine willkürliche Differenzierung ausschließen, da der Gesetzgeber aus Gründen des Gemeinwohls außerfiskalische Förder- und Lenkungsziele verfolge.
Betroffene Normen
§ 1 Abs. 1 SolZG 1995
Streitjahre 2020, 2021
Anmerkungen
Rechtsentwicklung
Mit dem Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 vom 10.12.2019 (BGBl. I 2019, S. 2115, siehe Deloitte Tax News) wurden ab dem Jahr 2021 aus sozialen und konjunkturellen Gründen rund 90% der Steuerpflichtigen von der Zahlung des Solidaritätszuschlags befreit. Nur Spitzenverdiener müssen seitdem die Ergänzungsabgabe noch entrichten.
Das Zweite Famillienentlastungsgesetz vom 01.12.2020 (BGBl. I 2020, S. 2616, siehe Deloitte Tax News) hat § 3 Abs. 2a SolZG an die durch dasselbe Gesetz erhöhten Freibeträge für Kinder (§ 32 Abs. 6 S. 1 EStG) angepasst.
Anhängige Verfassungsbeschwerde
Eine von Bundestagsabgeordneten erhobene Verfassungsbeschwerde (vgl. 2 BvR 1505/20) richtet sich gegen die Fortführung des Solidaritätszuschlags über das Jahr 2019 hinaus. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hierzu steht noch aus.
Vorinstanz
FG Nürnberg, Urteil vom 29.07.2020, 3 K 1098/19
Fundstellen
BFH, Urteil vom 17.01.2023, IX R 15/20, BStBl II 2023, S. 351
Pressemitteilung vom 30.01.2023, Nr. 007/23
Weitere Fundstellen
BFH, Urteil vom 21.07.2011, II R 52/10, BStBl II 2012, 43, siehe Deloitte Tax News
BVerfG, Beschluss vom 19.11.1999, 2 BvR 1167/96
BFH, Urteil vom 14.11.2018, II R 63/15, BStBl. II 2021, S. 184
BFH, Urteil vom 14.11.2018, II R 64/15, BStBl. II 2019, S. 289
BFH, Beschluss vom 25.04.2018, IX B 21/18, BStBl. II 2018, S. 415