EuGH: Meldepflicht bei grenzüberschreitenden Steuergestaltungen
Der EuGH bestätigt die Gültigkeit verschiedener Bestimmungen der EU DAC6-Richtlinie, die eine Meldepflicht grenzüberschreitender Steuergestaltungen vorsieht.
EuGH, Urteil vom 29.07.2024, C-623/22
Sachverhalt
Eine Vereinigung von Steueranwälten und Steuerberatern sowie Rechtsanwaltskammern riefen den belgischen Verfassungsgerichtshof an. Nach ihrer Auffassung verstößt die EU-Richtlinie bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen („EU-Richtlinie 2011/16/EU vom 15.02.2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25.05.2018 geänderten Fassung; auch „DAC6“ genannt“) gegen eine Reihe von Bestimmung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und gegen allgemeine Grundsätze des Unionsrechts. Folglich müsse auch das belgische Gesetz zu Umsetzung der o.g. Richtlinie für nichtig erklärt werden. Der belgische Verfassungsgerichtshof hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Entscheidung
Nach dem EuGH verstößt die o.g. EU-Richtlinie („DAC6“) nicht gegen EU-Recht.
Die erste Vorlagefrage lautete (vereinfacht): Verstößt die o.g. EU-Richtlinie gegen EU-Recht, insofern die Meldepflicht für grenzüberschreitende Gestaltungen sich nicht auf die Gesellschaftssteuer beschränkt, sondern beispielsweise im belgischen Recht auch andere direkte und indirekte Steuern wie die Registrierungsgebühren umfasst?
Der EuGH verneint einen Verstoß gegen EU-Recht. Aggressive Steuerplanungspraktiken könnten nicht nur im Bereich der Gesellschaftssteuer umgesetzt werden, sondern auch im Bereich der übrigen direkten Steuern, wie z.B. der Einkommensteuer für natürliche Personen und im Bereich der indirekten Steuern, die – im Unterschied zur Mehrwertsteuer, zu den Zöllen und zu den Verbrauchsteuern, die vom Geltungsbereich der o.g. Richtlinie ausgenommen sind – nicht wie diese drei Arten indirekter Steuern Gegenstand spezifischer Regelungen der Union sind.
Es handele sich bei den verschiedenen Arten von Steuern, die nach der o.g. EU-Richtlinie der Meldepflicht unterliegen um sog. vergleichbare Situationen, so dass ihre Einbeziehung in die Meldepflicht zur Erreichung der Ziele, wie der Bekämpfung von Steuerhinterziehung, nicht offensichtlich ungeeignet sei.
Die zweite und dritte Vorlagefrage lauteten (vereinfacht zusammengefasst): Verstößt die o.g. EU-Richtlinie gegen das Legalitätsprinzip im EU-Recht, insofern verwendete Begriffe wie z.B. „Gestaltung“, „Intermediär“, „Beteiligter“, nicht ausreichend klar und bestimmt sind bzw. insofern der Ausgangszeitpunkt der Frist von 30 Tagen, in der ein Intermediär oder ein relevanter Steuerpflichtiger der Meldepflicht für eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung nachkommen muss, nicht ausreichend klar und bestimmt festgelegt ist?
Der EuGH verneint hier ebenfalls einen Verstoß gegen EU-Recht. Nach dem EuGH sind die verwendeten Begriffe ausreichend klar und bestimmt. So sei auch der mit der Meldepflicht verbundene Eingriff in das Privatleben der Beteiligten im Hinblick auf die Informationen, die diese Meldung enthalten muss, hinreichend genau bestimmt.
Die vierte Vorlagefrage lautete (vereinfacht): Verstößt die o.g. EU-Richtlinie gegen EU-Recht, insofern Intermediäre, die einem Berufsgeheimnis unterliegen, bestimmte Unterrichtungspflichten über Meldepflichten bzw. auch Informationsaustauschpflichten auferlegt werden? Im Streitfall betrifft die Frage Intermediäre, für die, ohne dass sie Rechtsanwälte sind, nach nationalem Recht eine Verschwiegenheitspflicht besteht.
Auch hier verneint der EuGH einen Verstoß gegen EU-Recht. Zwar habe der EuGH in seinem Urteil vom 08.12.2022 (C-694/20, Orde van Vlaamse Balies) entschieden, dass die einem Rechtsanwalt, der wegen seiner Verschwiegenheitspflicht von der Meldepflicht befreit ist, auferlegte Pflicht, die anderen an der steuerlichen Gestaltung beteiligten Intermediäre über deren Meldepflichten zu unterrichten, das Berufsgeheimnis verletzt. Dies gelte allerdings nach den EuGH nur für Rechtsanwälte und nicht für andere Berufsgruppen. Die Vertraulichkeit der Beziehung zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten genieße einen ganz speziellen Schutz, der sich aus der singulären Stellung des Rechtsanwalts innerhalb der Gerichtsorganisation der Mitgliedstaaten sowie der ihm übertragenen grundlegenden Aufgabe ergibt, die von allen Mitgliedstaaten anerkannt wird.
Die fünfte Vorlagefrage lautete (vereinfacht): Verstößt die o.g. EU-Richtlinie gegen EU-Recht, insofern die Meldepflicht für grenzüberschreitende Gestaltungen einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens von Intermediären und relevanten Steuerpflichtigen zur Folge hätte, der nicht vernünftig gerechtfertigt und im Hinblick auf die angestrebten Ziele verhältnismäßig wäre und der im Hinblick auf das Ziel, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, nicht sachdienlich wäre?
Auch hier verneint der EuGH einen Verstoß gegen EU-Recht. Nach dem EuGH stellen die Bekämpfung aggressiver Steuerplanung und die Verhinderung der Gefahren von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen dar, die es erlauben die Ausübung der durch Art. 7 der Charta garantierten Rechte einzuschränken. Die zu meldenden Informationen gehen nicht über das hinaus, was unbedingt erforderlich ist, um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, die betreffende grenzüberschreitende Gestaltung hinreichend zu verstehen und zeitnah zu handeln, sei es allein auf der Grundlage der übermittelten Informationen oder durch Kontaktaufnahme mit den betreffenden Intermediären oder Steuerpflichtigen zur Erlangung zusätzlicher Informationen. Nach dem EuGH stellt die Meldepflicht einen verhältnismäßigen und gerechtfertigten Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens, verstanden als das Recht jeder Person, ihr Privatleben zu gestalten, dar.
Betroffene Normen
DAC6-EU-Richtlinie. EU-Grundrechte-Charta
Anmerkungen
Hintergrund
Mit dem Ziel der Bekämpfung von Steuermissbrauch und der Sicherstellung einer faireren Besteuerung wurde am 25.05.2018 die EU-Richtlinie ((EU) 2018/822 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen; auch „DAC6“ genannt) verabschiedet (siehe auch Deloitte Tax News). Diese Richtlinie sieht vor, dass alle, die an potenziell "aggressiven, grenzüberschreitenden Steuerplanungen" beteiligt sind, diese den zuständigen Steuerbehörden melden müssen. Diese Verpflichtung trifft alle, die an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung dieser Gestaltungen beteiligt sind (sog. Intermediäre). Außerdem erfasst sie auch diejenigen, die Unterstützung oder Beratung leisten, und die Steuerpflichtigen selbst.
Allerdings kann, so sieht es die Richtlinie vor, jeder Mitgliedstaat Intermediäre von dieser Pflicht befreien, wenn diese gegen eine nach nationalem Recht vorgesehene Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen muss der Intermediär jedoch andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, die relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gegenüber den zuständigen Behörden unterrichten.
Mit dem Gesetz zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen vom 21.12.2019 (BGBl. I 2019, S. 2875) wurde u.a. die o.g. Richtlinie in nationales Recht umgesetzt (siehe auch Deloitte Tax News).
Bedeutung für die deutschen Regelungen zur Meldepflicht von grenzüberschreitenden Steuergestaltungen
Zwar hatte der EuGH in der oben dargestellten Entscheidung die Vereinbarkeit der Umsetzung der DAC6-EU-Richtlinie in Belgien mit den Bestimmungen der Charta der Grundrechte der EU und allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts zu untersuchen. Dies sollte jedoch entsprechend für die deutschen Regelungen zur Umsetzung der DAC6-EU-Richtlinie gelten.
Soweit der EuGH in der vierten Vorlagefrage ausschließlich auf den Anwaltsberuf eingeht, sind keine Auswirkungen auf die Rechtslage in Deutschland zu erwarten. Die Richtlinie spricht insoweit neutral von gesetzlichen Verschwiegenheitspflichten, die die Mitgliedstaaten berücksichtigen dürfen; der hier diskutierte Verstoß hinsichtlich einer Pflicht zur Information anderer Intermediäre, der nur für Rechtsanwälte als Verstoß gegen EU-Recht angesehen wird, ist nach der deutschen Umsetzung für die deutsche Regelungslage nicht relevant.
Fundstellen
EuGH, Urteil vom 29.07.2024, C-623/22 "Belgian Association of Tax Lawyers"
EuGH, Pressemitteilung vom 29.07.2024
Weitere Fundstellen
EuGH, Urteil vom 08.12.2022, C-694/20, Orde van Vlaamse Balies