BFH: Zeitpunkt der Berücksichtigung des Gewinns aus
einem Wegzugsteuertatbestand
Ein Gewinn aus dem Wegzugsteuertatbestand des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG a.F. ist unmittelbar vor dem Zeitpunkt zu berücksichtigen, zu dem der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland eintritt (entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung im BMF-Schreiben vom 26.10.2018). Mittlerweile findet sich dieses Verständnis des BFH auch in der im Rahmen des ATAD-Umsetzungsgesetzes ergänzten Gesetzesvorschrift des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AStG wieder.
BFH, Urteil vom 16.04.2024, IX R 38/21
Sachverhalt
Die Eltern des in Deutschland ansässigen Klägers waren Eigentümer eines in Spanien belegenen Ferienhauses. Sie brachten diese Immobilie gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten in eine Kapitalgesellschaft spanischen Rechts (A-Gesellschaft) ein. Im Jahr 2006 übertrugen die Eltern dem Kläger 24 % der Anteile an der A-Gesellschaft, behielten sich allerdings den Nießbrauch vor.
Hintergrund: Dem Streitfall liegt die Änderung des DBA Spanien zugrunde. Nach Art. 13 Abs. 3 des ursprünglichen DBA Spanien vom 05.12.1966 (BGBl. II 1968, S. 9, BGBl. II 1968, S. 140) konnten Gewinne aus der Veräußerung aus Anteilen an Kapitalgesellschaften, nur in dem Vertragsstaat besteuert werden, in dem der Veräußerer ansässig war. Durch das ab 01.01.2013 in Kraft getretene DBA kann nach Art. 13 Abs. 2 DBA Spanien neben dem Ansässigkeitsstaat auch der Quellenstaat die Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Gesellschaft, deren Aktivvermögen zu mind. 50% aus unbeweglichem Vermögen besteht, besteuern. Zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung aufgrund des fortbestehenden Besteuerungsrechts Deutschlands besteht nach dem DBA Spanien die Pflicht, die gezahlte spanische Steuer auf die deutsche Steuer anzurechnen (Art. 22 Abs. 2 b) ii) DBA Spanien sowie § 34c Abs. 6 S. 2 EStG).
Das Finanzamt gelangte zu der Auffassung, dass diese Revision des DBA Spanien eine Entstrickung der in der Beteiligung des Klägers an der A-Gesellschaft ruhenden stillen Reserven gemäß § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG a.F. im Streitjahr 2013 zur Folge habe. Das FG war hingegen der Ansicht, dass die Voraussetzungen für die Besteuerung eines Entstrickungsgewinns gemäß § 6 AStG nicht vorliegen.
Entscheidung
Auch der BFH kommt zu dem Ergebnis, dass ein Entstrickungsgewinn jedenfalls nicht im Streitjahr 2013 besteuert werden kann. Ob das zum 01.01.2013 in Kraft getretene revidierte DBA Spanien den steuerlichen Entstrickungstatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG überhaupt ausgelöst hat, konnte der BFH im Streitfall offen lassen.
Gesetzliche Grundlagen
Im Privatvermögen gehaltene § 17 EStG-Beteiligungen unterliegen der sog. Wegzugsbesteuerung des § 6 AStG. Neben dem Wegzug ist auch die unentgeltliche Übertragung der Anteile auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person ein Tatbestand der Wegzugsbesteuerung. Vorbehaltlich dieser beiden Tatbestände unterliegt auch der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der Anteile der Wegzugsbesteuerung (§ 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG a.F.).
Dieser „Ersatztatbestand“ des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG a.F. soll "alle sonstigen Fälle" erfassen, in denen Deutschland nach einem DBA den Veräußerungsgewinn freistellen oder die ausländische Steuer anrechnen muss. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sind dies Fälle, in denen das geltende DBA dem ausländischen Ansässigkeitsstaat der Kapitalgesellschaft ein Besteuerungsrecht zuweist.
Keine Entscheidung des BFH zu Entstrickungstatbestand
Ob bereits die Einführung einer Anrechnungsverpflichtung durch ein revidiertes DBA zu einer Beschränkung des Besteuerungsrechts führt und damit der Tatbestand der sog. passiven Entstrickung i.S.d. § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG erfüllt sei, wird von der Finanzverwaltung und in der Literatur nicht einheitlich beurteilt.
Die Finanzverwaltung vertritt die Ansicht, dass § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG a.F. unabhängig von einer aktiven Handlung des Steuerpflichtigen nur durch eine Änderung der rechtlichen Ausgangssituation ausgelöst wird (BMF-Schreiben vom 26.10.2018).
Der BFH konstatiert, dass er in diesem Verfahren nicht entscheiden müsse, ob er den Ersatztatbestand des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG a.F. im Streitfall für gegeben erachtet.
Keine Entstrickungsgewinn in 2013
Denn selbst wenn dieser erfüllt wäre, wären die Einkünfte seiner Ansicht nach nicht im Streitjahr 2013, sondern im Veranlagungszeitraum 2012 zu berücksichtigen gewesen.
Die Wegzugsteuer gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 AStG tritt im Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht ein. Der BFH hat klargestellt, dass der Steuerzugriff letztmals an der unbeschränkten Steuerpflicht des Wegziehenden anknüpft und eben nicht als deren erster Akt nach Eintritt der beschränkten Steuerpflicht erfolgt (vgl. BFH-Beschluss vom 23.09.2008, I B 92/08).
Entstrickungsgewinn ensteht im Zeitpunkt des letztmaligen (unbeschränkten) Besteuerungsrechts
Für den Ersatztatbestand des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG a.F., der den Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts Deutschlands einer Beendigung der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht gleichstellt, gelte im Ergebnis nichts anderes. Ein Entstrickungsgewinn sei somit in dem Zeitpunkt in Ansatz zu bringen, in dem Deutschland abkommensrechtlich letztmalig das (unbeschränkte) Besteuerungsrecht für einen Veräußerungsgewinn inne hatte. Laut BFH ist die gegenteilige Ansicht der Finanzverwaltung, die insoweit den Zeitpunkt der erstmaligen Anwendbarkeit des erstmals abgeschlossenen oder revidierten DBA für maßgeblich hält (vgl. BMF-Schreiben vom 26.10.2018), nicht mit dem Grundtatbestand des § 6 Abs. 1 S. 1 AStG in Einklang zu bringen.
Nach diesen Maßstäben sei im Streitfall ein Entstrickungsgewinn nur im Veranlagungszeitraum 2012 anzusetzen gewesen. Das revidierte DBA Spanien war erstmals zum 01.01.2013 anzuwenden. Ein Entstrickungsgewinn wäre daher mit Ablauf des 31.12.2012 zu berücksichtigen gewesen.
Aktuelle Gesetzeslage entspricht dem Verständnis des BFH
Das vom BFH vertretene Verständnis wird inzwischen auch vom Gesetzgeber getragen. Durch das ATAD-Umsetzungsgesetz (ATADUmsG) vom 25.06.2021 (BGBl. I 2021, 2035, siehe Deloitte Tax-News) wurde für Fälle des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG a.F. (jetzt § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG) erstmals ausdrücklich – grundsätzlich mit Wirkung zum Veranlagungszeitraum 2022 – festgelegt, dass die "Veräußerung" unmittelbar vor dem Zeitpunkt, zu dem der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts eintritt, erfolgt (vgl. § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AStG i.d.F. des ATADUmsG). In der Gesetzesbegründung wird angeführt, dass die fingierte Veräußerung im Fall eines beispielsweise zum 01.01.01 anzuwendenden DBA mit Ablauf des 31.12.00 erfolge (BTDrucks 19/28652, S. 48). Das sieht der BFH lediglich als Klarstellung der schon zuvor geltenden Rechtslage an.
Anmerkungen
Geklärte und offen gelassene Fragestellungen
Für Altfälle des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG a.F. hat der BFH in dem hier besprochenen Urteil geklärt, dass ein Entstrickungsgewinn in dem Zeitpunkt in Ansatz zu bringen ist, in dem Deutschland abkommensrechtlich letztmalig das (unbeschränkte) Besteuerungsrecht für einen Veräußerungsgewinn inne hatte. Offen bleibt allerdings, ob die Finanzverwaltung dem Verständnis des BFH folgen wird. Für aktuelle Fälle des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG ist die Rechtslage aufgrund der geänderten Gesetzesvorschrift geklärt.
Unbeantwortet lässt der BFH allerdings die Frage, ob eine Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts an Anteilen im Sinne des § 17 EStG allein durch eine Änderung eines Doppelbesteuerungsabkommens ohne Zutun des Steuerpflichtigen (sog. passive Entstrickung) zu einem einkommensteuerbaren Tatbestand führt. Diese ungeklärte Fragestellung bleibt wohl auch für die Neufassung des Ersatztatbestands in § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AStG relevant.
Einordnung in die Rechtsprechung
BFH-Urteil vom 08.12.2021, IR 30/19
Der BFH hat bereits entschieden, dass die Vorschrift zur Wegzugsbesteuerung bei unentgeltlichen Anteilsübertragungen auf im Ausland ansässige Steuerpflichtige nicht einschränkend dahingehend auszulegen ist, dass das Recht Deutschlands zur Besteuerung der in den unentgeltlich übertragenen Anteilen ruhenden stillen Reserven ausgeschlossen oder beschränkt werden müsste (vgl. BFH-Urteil vom 08.12.2021, IR 30/19, siehe Deloitte Tax-News).
FG Münster, Urteil vom 10.08.2022, 13 K 559/19 G,F
In Bezug auf die Änderung des DBA Spanien mit Wirkung zum 01.01.2013 hat das FG Münster bereits entschieden, dass die Beschränkung des Besteuerungsrechts hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung eines Wirtschaftsguts allein durch die Änderung eines DBA ohne Zutun des Steuerpflichtigen nicht zur Verwirklichung des Entstrickungstatbestands und damit zur Besteuerung eines Entnahmegewinns nach § 4 Abs. 1 S. 3 EStG führt (FG Münster, Urteil vom 10.08.2022, 13 K 559/19 G,F, BFH-anhängig: I R 41/22, siehe Deloitte Tax-News). Abzuwarten bleibt, wie der BFH hierzu entscheiden wird. Der Ausgang dieses Verfahrens zur Vorschrift des § 4 Abs. 1 S. 3 EStG sollte auch Auswirkungen auf Fälle des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AStG haben.
Betroffene Norm
§ 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG a.F. (§ 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG n.F.)
Streitjahr 2013
Vorinstanz
Finanzgericht Köln, Urteil vom 17.06.2021, 15 K 888/18, EFG 2021, S. 1876
Fundstelle
BFH, Urteil vom 16.04.2024, IX R 38/21
Weitere Fundstellen
BFH, Beschluss vom 23.09.2008, I B 92/08, BStBl. II 2009, S. 524
BFH, Urteil vom 08.12.2021, IR 30/19, BStBl. 2022 II, S. 763, siehe Deloitte Tax-News
BMF, Schreiben vom 26.10.2018, IV B 5 - S 1348/07/10002-01, BStBl. I 2018, S. 1104
Finanzgericht Münster, Urteil vom 10.08.2022, 13 K 559/19 G,F, BFH-anhängig: I R 41/22, siehe Deloitte Tax-News