BFH: Auch bei Rückfallklausel keine Berücksichtigung „finaler“ Betriebsstättenverluste
Mit Urteil vom 12.04.2023 hat der BFH die Rechtsprechung des EuGH zum Untergang finaler Verluste einer EU-Freistellungsbetriebsstätte in einem weiteren Fall bestätigt. Der BFH kommt nicht nur zu dem Ergebnis, dass der auf einem DBA beruhende Ausschluss der Berücksichtigung von Verlusten einer in einem anderen Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätte (sog. Symmetriethese) auch im Hinblick auf "finale" Verluste nicht gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt, sondern dass auch kein Verstoß gegen Art. 20 der Charta der Grundrechte der EU und das verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot vorliegt. Außerdem äußert sich der BFH unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung zur Auswirkung von Rückfallklauseln.
Sachverhalt
Eine inländische GmbH (Klägerin) eröffnete im Jahr 2004 eine Niederlassung in Italien, die in den Jahren 2004 bis 2008 Verluste erwirtschaftete. Daher schloss die GmbH die italienische Niederlassung zum 31.12.2008 wieder. Weil sie in Italien zu keinem Zeitpunkt Gewinne erzielt hat, konnte die GmbH in eigener Person die Verluste dort weder durch einen Verlustrücktrag noch durch einen Verlustvortrag nutzen. Die GmbH machte daher in ihrer deutschen Steuererklärung für das Jahr 2008 ausländische Betriebsstättenverluste gewinnmindernd geltend. Das Finanzamt berücksichtigte diese Verluste jedoch bei der Festsetzung der Körperschaftsteuer nicht.
Hintergrund
Der EuGH hatte mit Urteil vom 22.09.2022, C-538/20, „W“ (siehe Deloitte Tax-News) entschieden, dass die Niederlassungsfreiheit keinen Abzug finaler Verluste einer Freistellungsbetriebsstätte gebietet. In seiner Entscheidung vom 22.02.2023, I R 35/22 / I R 32/18, siehe Deloitte Tax-News) hat der BFH diese Rechtsprechung des EuGH umgesetzt und die gewinnmindernde Berücksichtigung der in einer britischen Zweigniederlassung erzielten finalen Verluste im Rahmen der Festsetzung der Körperschaftsteuer sowie des Gewerbesteuermessbetrags versagt.
Entscheidung
Der BFH teilt die Ansicht des Finanzamts, dass die Verluste der italienischen Zweigniederlassung der GmbH die Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer weder für das Streitjahr 2008 noch für die Jahre 2004 bis 2007 mindern. Er bestätigt damit die Rechtsprechung des EuGH in einem weiteren Fall.
Positive und negative Einkünfte von Bemessungsgrundlage ausgenommen
Nach Art. 7 Abs. 1 DBA-Italien können Gewinne eines Unternehmens eines Vertragsstaats nur in diesem Staat besteuert werden, es sei denn, das Unternehmen übt seine Tätigkeit im anderen Vertragsstaat durch eine dort gelegene Betriebsstätte aus. In diesem Fall können die Gewinne des Unternehmens im anderen Staat besteuert werden, jedoch nur insoweit, als sie dieser Betriebsstätte zugerechnet werden können.
Obwohl die Vorschrift ausdrücklich nur Unternehmensgewinne erwähnt werden, sind nach Art. 24 Abs. 3 Buchst. a S. 1 DBA-Italien auch negative Einkünfte im Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen von der Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer ausgenommen. Nach der sog. Symmetriethese sind auch Verluste aus der inländischen Bemessungsgrundlage auszunehmen, wenn sich der in einer abkommensrechtlichen Verteilungsnorm verwendete Einkünftebegriff auf einen Nettobetrag bezieht (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 28.03.1973, I R 59/71).
Echte und qualifizierte Rückfallklausel
Nach Abschn. 16 Buchst. d des Protokolls zum DBA-Italien gelten die Einkünfte einer in einem Vertragsstaat ansässigen Person (nur dann) als aus dem anderen Vertragsstaat stammend, wenn sie im anderen Vertragsstaat in Übereinstimmung mit dem Abkommen "effektiv besteuert worden sind". Hierbei handelt es sich um eine sog. echte Rückfallklausel, die bewirkt, dass bei fehlender effektiver Besteuerung in dem Quellenstaat das Besteuerungsrecht an den anderen Vertragsstaat zurückfällt (BFH, Urteil vom 17.10.2007, I R 96/06). Aufgrund des Erfordernisses der "effektiven" Besteuerung durch den Quellenstaat ist die Bestimmung des Weiteren als sog. qualifizierte Rückfallklausel einzuordnen, die für die Freistellung nicht bloß eine abstrakte Steuerpflicht, sondern eine tatsächliche ("effektive") Besteuerung durch den Quellenstaat voraussetzt. Die Wirkung der Klausel erstreckt sich auch auf negative Einkünfte (BFH, Urteil vom 11.07.2018, I R 52/16).
Voraussetzungen der Rückfallklausel sind nicht erfüllt
In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass es im Verlustfall generell nicht zu einer Besteuerung in Italien i.S. des Abschn. 16 Buchst. d des Protokolls kommen könne und der Besteuerungsrückfall bei negativen Einkünften immer eintrete.
Dieser Sichtweise folgt der BFH nicht. Im Fall negativer Einkünfte ist nach Ansicht des BFH von einer tatsächlichen bzw. effektiven "Besteuerung" durch den anderen Staat dann auszugehen, wenn der andere Staat die Verluste in die steuerliche Bemessungsgrundlage einbezieht und einen Ausgleich mit positiven Einkünften eines anderen Veranlagungszeitraums ermöglicht. Nicht erforderlich sei hingegen, dass es zu irgendeinem Zeitpunkt tatsächlich zu einem solchen Ausgleich kommt.
Dass im Streitfall die in der Zweigniederlassung entstandenen Verluste in die Bemessungsgrundlage der italienischen Ertragsteuern eingegangen sind und nach italienischem Steuerrecht eine Verrechnung der Verluste mit etwaigen Gewinnen in nachfolgenden Veranlagungszeiträumen möglich gewesen wäre, sieht der BFH als ausreichend dafür an, dass das Besteuerungsrecht nicht an Deutschland zurückgefallen ist.
Kein Verstoß gegen die unionsrechtliche Niederlassungsfreiheit
Dass der im Streitjahr entstandene Verlust – ebenso wie die in den Vorjahren angefallenen Verluste – der italienischen Zweigniederlassung von der Verlustberücksichtigung bei der Körperschaftsteuer ausgeschlossen sind, obgleich die Verluste infolge der Schließung der Zweigniederlassung in Italien dort endgültig nicht nutzbar („final“) geworden sind, verstößt auch nicht gegen die unionsrechtliche Niederlassungsfreiheit, so der BFH. Damit setzt der BFH die vom EuGH in seinen Entscheidungen vom 22.09.2022 (C-538/20, „W“) und vom 17.12.2015 (C-388/14, „Timac Agro Deutschland“) vertretene Rechtsauffassung in einem weiteren Fall (wie bereits im Urteil vom 22.02.2023, I R 35/22 (I R 32/18)) um. Der EuGH hatte für die Frage der Vergleichbarkeit der Verhältnisse einen maßgeblichen Unterschied insbesondere darin gesehen, ob der "symmetrische" Ausschluss der Berücksichtigung der gebietsfremden Betriebsstättengewinne und -verluste auf einer bilateralen Vereinbarung (DBA) mit dem Betriebsstättenstaat beruht oder ob seine Grundlage in einer (unilateralen) Entscheidung des nationalen Steuerrechts liegt.
Dass die Vertragsstaaten des DBA-Italien mit Abschn. 16 Buchst. d des Protokolls eine qualifizierte Rückfallklausel vereinbart haben, nach der das Besteuerungsrecht an Deutschland zurückfällt, falls die Betriebsstätteneinkünfte in Italien nicht effektiv besteuert werden, führt nach Auffassung des BFH nicht dazu, dass von einem "unvollkommenen" Verzicht Deutschlands auf sein Besteuerungsrecht hinsichtlich der italienischen Betriebsstätteneinkünfte ausgegangen werden müsste und die Grundsätze des EuGH-Urteils „W“ auf italienische Betriebsstättenverluste generell nicht anwendbar wären. Vielmehr bleibe es in den Fällen, in denen die Voraussetzungen der Rückfallklausel nicht vorliegen, beim abkommensbedingten "symmetrischen" Besteuerungsverzicht Deutschlands und folglich nach den Maßstäben des EuGH bei einer fehlenden Vergleichbarkeit mit reinen Inlandsfällen.
Kein Verstoß gegen den unionsrechtlichen Gleichheitssatz in Art. 20 EUGrdRCh
Hinsichtlich einer Ungleichbehandlung inländischer und ausländischer Betriebsstättenverluste unbeschränkt Steuerpflichtiger liegt auch kein Verstoß gegen den allgemeinen unionsrechtlichen Gleichheitssatz in Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGrdRCh) vor, so der BFH. In Bezug auf die unionsrechtliche Niederlassungsfreiheit ergebe sich bereits aus der zitierten EuGH-Rechtsprechung, dass insoweit zwischen unbeschränkt Steuerpflichtigen, die eine Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat der EU unterhalten, deren (positive wie negative) Einkünfte aufgrund eines DBA der Besteuerung durch den Ansässigkeitsstaat entzogen sind, und reinen Inlandsfällen keine vergleichbaren Verhältnisse bestehen. Es erscheint dem BFH ausgeschlossen, dass für die Vergleichbarkeitsprüfung im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 20 EUGrdRCh andere Maßstäbe heranzuziehen sein könnten, als sie der EuGH für das Merkmal der Vergleichbarkeit bei der Prüfung auf eine Diskriminierung im Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit aufgestellt hat.
Betroffene Normen
Art. 7 DBA-Italien, Art. 24 DBA-Italien, Abschn. 16 Buchst. d Protokoll zum DBA-Italien, Art. 49 AEUV, Art 54. AEUV, Art. 20 EUGrdRCh, Art. 3 GG
Streitjahr 2008
Vorinstanz
Finanzgericht Hamburg, Urteil vom 06.08.2014, 2 K 355/12
Fundstelle
BFH, Urteil vom 12.04.2023, I R 44/22 (I R 49/19, I R 17/16), lt. BMF zur Veröffentlichung im BStBl. II vorgesehen
Weitere Fundstellen
EuGH, Urteil vom 22.09.2022, C-538/20 „W“, siehe Deloitte Tax-News
EuGH, Urteil vom 12.06.2018, C-650/19 „Bevola und Jens W. Trock“, siehe Deloitte Tax-News
EuGH, Urteil vom 17.12.2015, C-388/14 „Timac Agro Deutschland“, BStBl. II 2016, S. 362, siehe Deloitte Tax-News
BMF, Schreiben vom 20.06.2013, BStBl. I 2013, S. 980, siehe Deloitte Tax-News
BFH, Urteil vom 22.02.2023, I R 35/22 (I R 32/18), siehe Deloitte Tax-News
BFH, Urteil vom 11.07.2018, I R 52/16, BStBl. II 2019, S. 105
BFH, Urteil vom 17.10.2007, I R 96/06, BStBl. II 2008, S. 953
BFH, Urteil vom 28.03.1973, I R 59/71, BStBl. II 1973, S. 531