EuGH: Vorsteuerabzug trotz zivilrechtlicher Nichtigkeit des zugrundeliegenden Rechtsgeschäfts
Kann die zivilrechtliche Nichtigkeit einen Vorsteuerversagungsgrund begründen, wenn das Erstreben eines ungerechtfertigten Steuervorteils nicht feststeht?
Hintergrund
Sind die formellen und materiellen Voraussetzungen des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt, darf der Vorsteuerabzug grundsätzlich nicht versagt werden. Materielle Voraussetzung des Vorsteuerabzugs ist u.a. die tatsächliche Leistungsbewirkung. Wird die Eingangsleistung tatsächlich erbracht, ist die Rechtsunwirksamkeit oder Anfechtbarkeit des zugrundliegenden Kausalgeschäfts unbeachtlich. Auf die Gesetzes- oder Sittenwidrigkeit des leistungsbegründenden Verhaltens kommt es nach dem EuGH grundsätzlich nicht an (EuGH, Urt. v. 02.08.1993, C-111/92, Lange; EuGH, Urt. v. 29.06.2000, C-455/98, Salumets). Steht jedoch fest, dass das Recht auf Vorsteuerabzug in einer Weise geltend gemacht wird, die eine Steuerhinterziehung oder einen Rechtsmissbrauch darstellt, ist der Vorsteuerabzug zu versagen (EuGH, Urt. v. 03.03.2005, Fini H, C-32/03, Rz. 34 f.; EuGH, Urt. v. 01.12.2022, Aquila Part Prod Com, C-512/21, Rz. 26). Die Beweislast für das Vorliegen einer Steuerhinterziehung, einer missbräuchlichen Gestaltung oder der Kenntnis oder fahrlässigen Unkenntnis von der Einbeziehung des Umsatzes in eine Steuerhinterziehung auf einer anderen Umsatzstufe obliegt der Finanzverwaltung (EuGH, Beschl. v. 09.01.2023, A.T.S. 2003, C-289/22, Rz. 53). In einem polnischen Vorabentscheidungsverfahren hat der EuGH die Voraussetzungen der Versagung des Vorsteuerabzugs präzisiert. Die Besonderheit des Falles lag darin, dass die polnische Finanzverwaltung einen Versagungsgrund annahm, ohne darzulegen, dass die Voraussetzungen eines fiktiven Umsatzes erfüllt waren oder das Recht auf Vorsteuerabzug in betrügerischer Weise oder missbräuchlich ausgeübt wurde.
Sachverhalt
Ein Unternehmer stellte dem Kläger eine Rechnung über einen Markenverkauf aus. Der Kläger machte daraus den Vorsteuerabzug geltend. Die polnische Finanzverwaltung versagte dem Kläger den Vorsteuerabzug wegen der zivilrechtlichen Nichtigkeit des zugrundeliegenden Rechtsgeschäfts. Es handele sich um ein Scheingeschäft.
Der Kläger obsiegte in erster Instanz. Das Vorliegen eines Scheingeschäfts war nach Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts nicht nachgewiesen. Die Finanzverwaltung legte Kassationsbeschwerde ein. Das polnische Oberste Verwaltungsgericht zweifelte daran, ob das Recht auf Vorsteuerabzug allein wegen der zivilrechtlichen Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts versagt werden kann und ersuchte den EuGH um Vorabentscheidung.
Vorlagefrage
Steht das Unionsrecht einer nationalen Bestimmung entgegen, die dem Steuerpflichtigen den Vorsteuerabzug aus dem Erwerb, der nach nationalem Zivilrecht nur zum Schein erfolgt ist, versagt, ohne dass dies davon abhängt, ob mit dem Umsatz ein ungerechtfertigter Steuervorteil angestrebt wird?
Entscheidung
Die Versagung des Vorsteuerabzugs allein aufgrund der angenommenen zivilrechtlichen Nichtigkeit des zugrundeliegenden Rechtsgeschäfts ist neutralitätswidrig. Die nationale Finanzbehörde trägt die Darlegungslast für die eine Versagung des Vorsteuerabzuges begründenden Tatsachen.
Betroffene Normen
Art. 167, Art. 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a, Art. 273 MwStSystRL
Anmerkung
Der Vorsteuerabzug ist nach dem EuGH nicht ausgeschlossen, wenn das zugrundeliegende Rechtsgeschäft nach Maßgabe des nationalen Zivilrechts zwar nichtig, jedoch eine rechtsmissbräuchliche Gestaltung oder das Erstrebens eines ungerechtfertigten Steuervorteil nicht erwiesen ist. Die zivilrechtliche Beurteilung als Scheingeschäft und die Nichtigkeitsfolge wirken allenfalls indiziell für eine rechtsmissbräuchliche Gestaltung.
Das Urteil bestätigt die deutsche Rechtslage. Ob das die Besteuerung auslösende Verhalten sitten- oder gesetzeswidrig ist, ist für Besteuerungszwecke nach dem § 40 Abs. 1 Satz 1 AO zugrundeliegend Prinzip der wertneutralen Besteuerung unbeachtlich. Die Vorschrift gilt zulasten und zugunsten des Steuerpflichtigen. Für den Vorsteuerabzug kommt es nicht darauf an, ob dem leistungsbegründenden Verhalten zivilrechtliche Wirksamkeitshindernisse entgegenstehen, solange kein ungerechtfertigter Steuervorteil bezweckt wird bzw. der Unternehmer nicht gem. § 25f Abs. 1 UStG wusste oder wissen musste, dass er sich mit seinem Leistungsbezug bzw. seiner Ausgangsleistung an einem Umsatz beteiligt, bei dem auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe eine Umsatzsteuerhinterziehung oder Schädigung des Umsatzsteueraufkommens begangen wurde.
Fundstelle
EuGH, Urteil vom 25.05.2023, C‑114/22