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22.09.2021
Indirekte Steuern/Zoll

EuGH/BFH: Keine Steuerfreiheit der Gutachtertätigkeit im Auftrag des Medizinischen Dienstes (MDK)

Bei nur mittelbarer Kostenerstattung über den MDK fehlt es an der Anerkennung als „Einrichtung mit sozialem Charakter“. Die Hinweise des EuGH und BFH lassen jedoch die Kriterien erkennen, nach denen Leistungen in ähnlichen Sachverhaltskonstellationen von der Umsatzsteuer befreit sind.

Hintergrund und Sachverhalt

Erstellten selbständige Unternehmer Gutachten zur Pflegebedürftigkeit von Patienten gegenüber dem medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) als Auftraggeber, unterlag diese Tätigkeit nach nationalem Recht der Steuerpflicht. Die Gutachten dienen der Vorbereitung der Leistungsgewährung der Pflegekasse zur Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit. Solche Vorbereitungshandlungen fielen bislang nicht unter die nationale Befreiungsnorm, da danach nur die Leistungen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit selbst von der Besteuerung ausgenommen waren, nicht aber auch eng mit diesen Leistungen verbundene Leistungen (die jetzige Fassung des § 4 Nr. 18 UStG trat erst zum 01.01.2020 in Kraft und soll die unionsrechtliche Grundlage des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL umsetzen). Nach Unionsrecht hingegen sind eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen erbracht werden, steuerfrei.

In diesem Zusammenhang war für den BFH fraglich, ob sich eine Krankenschwester (Klägerin) mit medizinischer Grundausbildung und akademischer Ausbildung im Bereich der Pflegewissenschaft sowie einer Weiterbildung in Pflege-Qualitätsmanagement, die für den MDK Gutachten zur Pflegebedürftigkeit von Patienten erstellte, direkt auf die Steuerbefreiung nach Unionsrecht berufen kann (siehe Deloitte Tax-News). Der BFH legte dem EuGH daher folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor (BFH Beschl. v. 10.4.2019, XI R 11/17): Stellt die Gutachtertätigkeit einen eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Umsatz dar, auch wenn sie nicht gegenüber dem Hilfsbedürftigen selbst erbracht wird? Sofern das der Fall ist und die Gutachtertätigkeit eine begünstigte Tätigkeit darstellt, ist ein Subunternehmer, der im Auftrag des MDK tätig ist, als Einrichtung im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL anzusehen? Der EuGH beantwortet die Frage nicht selbst, sondern gab dem BFH nur Hinweise zur Entscheidung (Urt. v. 08.10.2020, Finanzamt D, C-657/19). Danach ist für das Vorliegen der Steuerbefreiung unerheblich, an wen die Dienstleistungen erbracht werden, sofern sie einen für die Durchführung der Maßnahmen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unerlässlichen Schritt darstellen.

Der unabhängige Gutachter, der als Subunternehmer im Auftrag des MDK tätig wird, ist allerdings keine „Einrichtung mit sozialem Charakter“ im Sinne der Steuerbefreiungsnorm, so dass die Umsätze im Ergebnis nicht steuerbefreit sind. Der EuGH stellt klar, dass die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter insbesondere nicht bereits aus der Übernahme der Kosten durch die Pflegekasse folgt. Die Kosten wurden nur mittelbar über den MDK erstattet, ohne auf einer expliziten Entscheidung der Pflegekasse zu beruhen oder einem Vertrag mit der Pflegekasse. Allein die Möglichkeit eines Vertragsschlusses reicht nach Ansicht des EuGH nicht aus. Die nur mittelbare Kostentragung genügt daher nicht, um als Einrichtung mit sozialem Charakter zu gelten. Im Anschluss an die EuGH Entscheidung hat der BFH nun die Nachfolgeentscheidung veröffentlicht (BFH Urt. v. 24.02.2021, XI R 30/20).

Nachfolgeentscheidung des BFH

Der BFH folgt den Hinweisen des EuGH und gelangt zum Ergebnis,

  • dass das Merkmal der Befreiungsnorm „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden“ voraussetzt, dass die Leistungen für die der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unterfallenden Umsätze unerlässlich sind. Bei den erbrachten Gutachterleistungen ist das der Fall.
  • Dienstleistungen, die die Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit betreffen, müssen nicht unmittelbar an die pflegebedürftigen Personen erbracht werden, um als eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden angesehen werden zu können.
  • Die Anerkennung eines Gutachters als Einrichtung mit sozialem Charakter folgt nicht aus einer bloß mittelbaren Erstattung der Kosten für die Gutachtertätigkeit über den MDK, ohne dass dies auf einer expliziten Entscheidung der Pflegekasse beruht oder der Gutachter die Möglichkeit genutzt hätte, in Bezug auf diese Tätigkeit mit der Pflegekasse einen entsprechenden Vertrag zu schließen.

Anmerkung

In seinen Hinweisen hat der EuGH erneut klargestellt, dass das Merkmal der unionsrechtlichen Steuerbefreiungsnorm (Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL) „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden“ unter Beachtung des Kriteriums der Unerlässlichkeit im Sinne von Art. 134 Buchst. a MwStSystRL auszulegen ist (so auch schon EuGH Urt. v.09.02.2006, Stichtin Kinderopvang Enschede C-415/04). Danach müssen die betreffenden Leistungen jedenfalls für die Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unterfallenden Umsätze unerlässlich sein, damit die Steuerbefreiung überhaupt in Betracht kommen kann. Diese Grundsätze anwendend gelangt der BFH zum Ergebnis, dass es sich bei den gutachterlichen Tätigkeiten der Klägerin um unerlässliche Umsätze handelt, da die Gutachten unverzichtbar waren. Dass die Klägerin als Subunternehmerin ihre Leistungen an einen anderen Steuerpflichtigen (hier den MDK) erbringt, der diese benötigt, um seine eigenen steuerfreien Leistungen zu erbringen, ist unschädlich. Hierbei handelt es sich um eine Änderung der Rechtsprechung (anders noch BFH Urt. v. 01.12.2010, XI R 46/08).

Im Zusammenhang mit der unionsrechtlich gebotenen Auslegung der Befreiungsnorm unter Beachtung der „Unerlässlichkeit der Leistung“ ist aus nationaler Sicht der weite Anwendungsbereich der nationalen Befreiungsnorm in § 4 Nr. 15a UStG iVm den Vorschriften des SGB V auffällig. Denn danach sind alle auf Gesetz beruhenden Leistungen des MDK begünstigte Umsätze. Ob dieser weite Anwendungsbereich im Einklang mit der Auslegung des EuGH steht, ist zumindest fraglich. Im Einzelfall sollte daher nicht nur überprüft werden, welche Steuerbefreiungsnorm einschlägig ist (§ 4 Nr. 15a UStG oder § 4 Nr. 18 UStG als lex generalis), sondern auch, ob das jeweilige Gutachten tatsächlich unverzichtbar bzw. unerlässlich für die Durchführung der Maßnahmen der Sozialfürsorge ist. Sofern die Leistungen sachlich unter die Befreiung fallen, muss für das Vorliegen der Befreiungsnorm die weitere Voraussetzung der „Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter“ erfüllt sein. Im vorliegenden Fall fehlte es an dieser weiteren Voraussetzung.

In Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung (anders noch BFH Urt. v. 13.06.2018, XI R 20/16) stellt der BFH klar, dass es für die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter nicht ausreicht, wenn die Kosten nur mittelbar von einer Einrichtung der sozialen Sicherheit getragen werden, wenn – wie beim Subunternehmer – keine vertraglichen Beziehungen zum öffentlichen Träger bestehen. Für die Zukunft und ähnlich gelagerte Fälle folgt daraus, dass gutachterliche Tätigkeiten von Subunternehmern nur dann das Kriterium der Einrichtung mit sozialem Charakter erfüllen, sofern der Kostenträger mit dem in der Leistungskette eingesetzten Subunternehmer einen entsprechenden Vertrag geschlossen hat oder der Kostenträger explizit die Entscheidung getroffen hat, dass in dem konkreten Fall für diesen einen Subunternehmer die Kosten übernommen werden. Neben einem entsprechenden Vertragsschluss sollten Betroffene allerdings auch die aktuellen Revisionsverfahren des BFH verfolgen (BFH XI R 34/18; V R 1/19).​

Betroffene Normen

Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL; § 4 Nr. 14; § 14 Nr. 15a; § 14 Nr. 16 UStG VZ 2012, UStG VZ 2013, UStG VZ 2014

Vorinstanz:

Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 09.06.2016, Az: 11 K 15/16

Fundstellen

EuGH, Urteil vom 08.10.2020, C-657/19

BFH, Urteil vom 24.02.2021, XI R 30/20 (XI R 11/17)

BFH, Pressemitteilung Nr. 22/2021 vom 01.07.2021

 

Ihre Ansprechpartner

Dr. Ulrich Grünwald
Partner

ugruenwald@deloitte.de
Tel.: +49 30 25468 258

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