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06.12.2022
Indirekte Steuern/Zoll

EuGH: Bestimmung des Organträgers als Steuerpflichtiger verstößt nicht gegen Unionsrecht; Stimmrechtsmehrheit des Organträgers ist nicht erforderlich; Organgesellschaften sind selbständig

​Die deutsche Regelung, nach der der Organträger einziger Steuerpflichtiger der Gruppe ist, ist unionsrechtskonform; die restriktive Auslegung des Tatbestandsmerkmals der finanziellen Eingliederung, nach der der Organträger zusätzlich zur Mehrheitsbeteiligung an der Einheit über eine Stimmrechtsmehrheit verfügen muss, ist unionsrechtswidrig. 

Hintergrund

Die EuGH Urteile zur Organschaft waren mit Spannung erwartet worden, da die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen die Unionsrechtsrechtwidrigkeit der deutschen Organschaftsregelung geltend gemacht hat. Die Generalanwältin hat in beiden Schlussanträgen betont, dass schon seit Jahren in der nationalen und in der Unionsrechtsprechung, sowie in der rechtswissenschaftlichen Literatur erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der deutschen Organschaftsregelung mit Art. 11 MwStSystRL geäußert worden sind (siehe u.a. Deloitte Tax News). Im Wesentlichen geht es in den beiden Entscheidungen um die Fragen, wer bei Vorliegen einer Mehrwertsteuergruppe Steuerpflichtiger ist, die Gruppe selbst, ein von den Gruppenmitgliedern benannter Vertreter oder, wie im deutschen Recht, der Organträger.

Daneben beschäftigen sich die Urteile mit der Frage, ob Leistungen zwischen Gruppenmitgliedern nicht steuerbare Innenumsätze darstellen, oder ob diese lediglich im Rahmen einer „Steuererklärungsgemeinschaft“ zusammengefasst werden. Außerdem ging es in einer der Entscheidungen auch um die Frage, ob Leistungen einer Organgesellschaft für den hoheitlichen Bereich ihrer Organträgerin als unentgeltliche Wertabgaben für Zwecke außerhalb des Unternehmens zu beurteilen ist.

Sachverhalte

1. Gegenstand der EuGH Entscheidung C-141/20 (BFH Vorlage vom 11.1.2019, XI R 16/18, MwStR 2020, 447 m. Anm. Grünwald) war folgender Sachverhalt:

Die Klägerin ist eine GmbH. Ihre Gesellschafter halten Beteiligungen von 51% bzw. 49 %. Der alleinige Geschäftsführer der GmbH war zugleich alleiniger Geschäftsführer des Mehrheitsgesellschafters. Nach dem Gesellschaftsvertrag hat jeder Gesellschafter in der Gesellschafterversammlung die gleiche Anzahl von Stimmen. Der Mehrheitsgesellschafter konnte daher seinen Willen nicht durchsetzen, weshalb das zuständige Finanzamt die finanzielle Eingliederung und damit das Vorliegen einer Organschaft verneinte.

2. Der EuGH Entscheidung C-269/20 (EuGH Vorlage vom 07.05.2020, BFH V R 40/19, DStR 2020, 1367 m. Anm. Heuermann) lag folgender Sachverhalt zu Grunde:

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist eine Stiftung des öffentlichen Rechts und Trägerin einer Universität, die u.a. einen Bereich für Universitätsmedizin unterhält. Sie ist einerseits Steuerpflichtige und erbringt humanmedizinische Dienstleistungen gegen Entgelt; andererseits nimmt sie als juristische Person des öffentlichen Rechts Aufgaben im Bereich der öffentlichen Gewalt wahr und ist insoweit keine Unternehmerin. Eine mit ihr organschaftlich verbundene GmbH erbrachte Reinigungsleistungen sowohl in den unternehmerisch genutzten Räumen als auch in den hoheitlich genutzten Räumen der Stiftung. Streitig war, ob die Reinigung der hoheitlich genutzten Räume als unentgeltliche Wertabgabe zu beurteilen ist. 

Entscheidungen

Der EuGH hat zu Sachverhalt 1 entschieden:

  1. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, den Organträger dieser Gruppe zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen beiden anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.
  2. Ferner ist Art. 4 Abs. 4 Unerabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit einer Einheit, mit dem Unternehmen des Organträgers eine Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zu bilden, an die Bedingung knüpft, dass der Organträger zusätzlich zu einer Mehrheitsbeteiligung an dieser Einheit über eine Stimmrechtsmehrheit bei ihr verfügt.
  3. Das Unionsrecht ist dahingehend auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Einheiten im Wege der Typisierung als nichtselbständig anzusehen, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durchgegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinanderverbunden sind, eingegliedert sind.

Zum zweiten Sachverhalt wiederholt er zunächst den ersten, inhaltsgleichen Leitsatz der Entscheidung C-141/21 und formuliert als zweiten und letzten Leitsatz in der Rechtssache C-269/20:

2) Das Unionsrecht ist dahingehend auszulegen, dass im Fall einer Einheit, die die einzigen Steuerpflichtige einer Gruppe von Personen ist, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, und die zum einen wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, für die sie der Steuer unterliegt, und zum anderen Tätigkeiten im Rahmen der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben, für die sie gem. Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie als mehrwertsteuerpflichtig gilt, die Erbringung einer Dienstleistung im Zusammenhang mit dieser hoheitlichen Tätigkeit durch ein Mitglied dieser Gruppe nicht gem. Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie besteuert werden darf.

Betroffene Normen

​§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG; Art. 11 MwStSystRL 

Anmerkung

Der EuGH zitiert die Schlussanträge der Generalanwältin zwar teilweise, weicht inhaltlich jedoch entschieden von ihnen ab. Nach dem EuGH kann, muss aber nicht, der Organträger einziger Steuerpflichtiger der Gruppe sein, sofern er in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern der Gruppe durchzusetzen und seine Bestimmung als Steuerpflichtiger nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt. Da sich die Finanzbehörde nach § 73 AO auch an die Organgesellschaften als Haftungsschuldner halten kann, besteht die Gefahr von Steuerverlusten nicht, so dass der Organträger einziger Steuerpflichtiger sein kann. Das nationale Recht steht insoweit nicht im Widerspruch zum Unionsrecht.

Des Weiteren führt der EuGH aus, dass das Unionsrecht „dahingehend auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Einheiten im Wege der Typisierung als nicht selbständig anzusehen, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, eingegliedert sind“. Diese Passage zielt auf die Selbständigkeit der Gruppenmitglieder ab und könnte Auswirkungen auf die künftige Behandlung von derzeit nicht steuerbaren Innenumsätzen haben. Wenn die Mitglieder der Gruppe selbständig sind und an den Organträger entgeltliche Leistungen erbringen, sind die bisherigen nicht steuerbaren Innenumsätze zwischen den Mitgliedern einer Organschaft womöglich künftig grundsätzlich als steuerbar und steuerpflichtig anzusehen. Ob dies der Fall ist, lässt der EuGH allerdings offen.

Die Ausführungen des EuGH zum Erfordernis der finanziellen Eingliederung machen deutlich, dass die Rechtsauffassung der Finanzverwaltung in Abschn. 2.8. Abs. 5 S. 2 UStAE nicht mit der Auslegung des EuGH in Einklang steht. Nach Ansicht der Finanzverwaltung muss für die finanzielle Eingliederung eine Anteilsmehrheit von über 50% bzw. Stimmrechtsmehrheit vorliegen. Der EuGH betont hingegen, dass das Merkmal der finanziellen Eingliederung nicht restriktiv auszulegen ist. Nur dann, wenn das Erfordernis der Stimmenmehrheit erforderlich und geeignet ist, Missbrauch zu vermeiden, darf es als Voraussetzung der Organschaft verlangt werden. Damit muss der Organträger grundsätzlich nicht zusätzlich zur Mehrheitsbeteiligung über eine Stimmrechtsbeteiligung verfügen, damit das Merkmal der finanziellen Eingliederung erfüllt ist.

Die Ausführungen des EuGH zu einer juristischen Person des öffentlichen Rechts als Organträger, die neben wirtschaftlichen Tätigkeiten auch hoheitlicher Aufgaben ausübt, werden im Rahmen einer eigenen DTN besprochen.

Fundstellen

EuGH, Urteil vom 01.12.2022, C‑141/20

EuGH, Urteil vom 01.12.2022, C‑269/20

 

Ihre Ansprechpartner

Dr. Ulrich Grünwald
Partner

ugruenwald@deloitte.de
Tel.: +49 30 25468 258

Dr. Diana-C. Kurtz
Senior Manager

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