Zurück zur Übersicht
29.08.2011
Arbeitnehmerbesteuerung/ Sozialversicherung

BFH: Ein Arbeitnehmer kann nur eine regelmäßige Arbeitsstätte innehaben

Sachverhalt

Der BFH hatte drei Urteile zur regelmäßigen Arbeitsstätte bei mehreren Tätigkeitsstätten zu entscheiden:

VI R 55/10
Der Kläger hat Fahrten mit dem Firmen-PKW zwischen seiner Wohnung und dem Betriebssitz des Arbeitgebers als Dienstreisen geltend gemacht, da er vor Fahrtantritt stets in einem bei der Wohnung belegenen Kellerraum des Arbeitgebers Wartungs- und Optimierungsarbeiten an der betrieblichen EDV-Anlage durchgeführt habe. Finanzamt und Finanzgericht beurteilten dagegen die Fahrten als Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte.

VI R 58/09
Der Außendienstmitarbeiter (Kläger) besuchte den Dienstsitz des Arbeitgebers zwar regelmäßig, aber lediglich zu Kontrollzwecken auf, ohne dort seiner eigentlichen beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Streitig war, ob der Betriebssitz des Arbeitgebers zur regelmäßigen Arbeitsstätte wurde.

VI R 36/10
Die Klägerin war als Distriktmanagerin für 15 Filialen einer Supermarktkette zuständig und suchte sämtliche Filialen zum Teil in regelmäßigen, aber auch unregelmäßigen Abständen immer wieder auf. Keine der Tätigkeitsstätten hatte eine hinreichend zentrale Bedeutung gegenüber den anderen Tätigkeitsorten. Sie machte u.a. Reisekosten für die Fahrten von ihrer Wohnung zu den Filialen geltend. Das Finanzamt legte den Fahrtkosten von der Wohnung zur jeweils zuerst angefahrenen und von der zuletzt aufgesuchten Filiale zur Wohnung die Entfernungspauschale zugrunde.

Entscheidung

Eine regelmäßige Arbeitsstätte ist (nur) der (ortsgebundene) Mittelpunkt der dauerhaft angelegten beruflichen Tätigkeit des Arbeitnehmers (vgl. BFH-Urteile vom 11.05.2005 VI R 25/04, VI R 15/04 und 14.09.2005) und damit der Ort, an dem der Arbeitnehmer seine aufgrund des Dienstverhältnisses geschuldete Leistung zu erbringen hat (BFH-Urteile vom 07.06.2002, 11.05.2005 (VI R 25/04), 14.09.2005). Dies ist im Regelfall der Betrieb oder eine Betriebsstätte des Arbeitgebers, der der Arbeitnehmer zugeordnet ist und die er nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit, also fortdauernd und immer wieder aufsucht (BFH-Urteil vom 22.09.2010 m.w.N.).

Der BFH hält an der bisher ständigen Rechtsprechung nicht mehr fest, dass ein Arbeitnehmer auch mehrere regelmäßige Arbeitsstätten nebeneinander innehaben kann (vgl. zuletzt Urteile vom 11.05.2005 (VI R 15/04) und 14.09.2005). Der ortsgebundene Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit des Arbeitnehmers kann nur an einem Ort liegen. Nur insoweit kann sich der Arbeitnehmer auf die immer gleichen Wege einstellen und so (etwa durch Fahrgemeinschaften, öffentliche Verkehrsmittel oder eine zielgerichtete Wohnsitznahme in der Nähe der regelmäßigen Arbeitsstätte) auf eine Minderung der Wegekosten hinwirken. Übt der Arbeitnehmer hingegen an mehreren betrieblichen Einrichtungen des Arbeitgebers seinen Beruf aus, ist es ihm regelmäßig nicht möglich, die anfallenden Wegekosten durch derartige Maßnahmen gering zu halten. Denn die unter Umständen nicht verlässlich vorhersehbare Notwendigkeit, verschiedene Tätigkeitsstätten aufsuchen zu müssen, erlaubt es dem Arbeitnehmer nicht, sich immer auf die gleichen Wege einzustellen. In einem solchen Fall lässt sich die Einschränkung der Steuererheblichkeit von Wegekosten durch die Entfernungspauschale (§ 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG) nicht rechtfertigen.

Ist der Arbeitnehmer in mehreren betrieblichen Einrichtungen des Arbeitgebers tätig, sind die Umstände des Einzelfalles zu würdigen und der ortsgebundene Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit zu bestimmen. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, welcher Tätigkeitsstätte der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber zugeordnet worden ist, welche Tätigkeit er an den verschiedenen Arbeitsstätten im Einzelnen wahrnimmt oder wahrzunehmen hat und welches konkrete Gewicht dieser Tätigkeit zukommt. Der regelmäßigen Arbeitsstätte muss eine hinreichend zentrale Bedeutung gegenüber den weiteren Tätigkeitsorten zukommen (BFH-Urteil vom 04.04.2008).

VI R 55/10
Die Revision war begründet, das Verfahren wurde an das Finanzgericht zurückverwiesen, um den Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit zu bestimmen. Falls das FG feststellt, dass der Kellerraum nicht in die häusliche Sphäre des Klägers eingebunden ist , hat es zu entscheiden, in welcher Tätigkeitsstätte der Schwerpunkt der beruflichen Tätigkeit des Klägers liegt und welche damit als regelmäßige Arbeitsstätte gilt. Dazu hat es festzustellen, ob und welcher betrieblichen Einrichtung seines Arbeitgebers der Kläger zugeordnet ist, welche Tätigkeit er an den verschiedenen Arbeitsstätten im Einzelnen wahrnimmt oder wahrzunehmen hat und welches Gewicht dieser Tätigkeit jeweils zukommt.

VI R 58/09
Die vom Kläger unternommenen streitigen Fahrten sind keine solchen zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Der Außendienstmitarbeiter ist am Betriebssitz seines Arbeitgebers nicht in einer Weise tätig, die es rechtfertigt, diesen Tätigkeitsort als die (regelmäßige) Arbeitsstätte zu qualifizieren.

VI R 36/07
Das FG hat der Klägerin zu Unrecht mehrere regelmäßige Arbeitsstätten zugeordnet. Die bisher gewährte Entfernungspauschale (§ 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG) für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ist rückgängig zu machen. Das FG hat im zweiten Rechtsgang festzustellen, ob die Klägerin überhaupt eine regelmäßige Arbeitsstätte innehatte oder ob sie nicht insgesamt eine Auswärtstätigkeit ausgeübt hat.

Betroffene Norm

§ 8 Abs. 2 S. 3 EStG, § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG
Streitjahre 2002 und 2003 (VI R 55/10); Streitjahre 2001 bis 2004 (VI R 58/09); Streitjahre 2002 bis 2004 (VI R 36/10)

Anmerkungen

Mit diesen drei Urteilen hat der BFH der Arbeitsgruppe der Finanzverwaltung, die sich derzeit mit der Erarbeitung eines Vorschlages für die Reform des steuerlichen Reisekostenrechts befasst, eine gute Vorlage geliefert. Die Auffassung des BFH, dass es nur eine regelmäßige Arbeitsstätte geben kann, deckt sich mit den Forderungen der Wirtschaft zur Reform des Reisekostenrechts und ist geeignet, das Reisekostenrecht zu vereinfachen. Die Vorschläge der Finanzverwaltung sollen Ende 2011 vorgelegt werden. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Finanzverwaltung kurzfristig zur geänderten BFH-Rechtsprechung stellt und ob es zu einer Veröffentlichung der Urteile im BStBI kommt. Durch Veröffentlichung der BFH-Urteile im BStBl Teil II werden die Finanzämter angewiesen, diese Entscheidungen auch in vergleichbaren Fällen anzuwenden.

Nach der neuen Rechtsprechung des BFH sind somit für das Vorliegen einer regelmäßigen Arbeitsstätte folgende Voraussetzungen zu prüfen:

  • Betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers 
  • Ortsgebundener Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit 
          - Zuordnung durch den Arbeitgeber 
          - Art der Tätigkeit an den verschiedenen Arbeitsstätten 
          - Gewicht dieser Tätigkeit

    => Die Haltung der Finanzverwaltung ist inzwischen geklärt: Die Grundsätze der BFH-Urteile vom 09.06.2011 sind in allen offenen Fällen allgemein anzuwenden.
    BMF, Schreiben vom 15.12.2011, IV C 5 - S 2353/11/10010 - 2011/1015706

Vorinstanzen

Finanzgericht Münster, Urteil vom 19.01.2010, 1 K 4306/07 E, EFG 2010, S. 1986 (zu VI R 55/10)
Finanzgericht Münster, Urteil vom 24.04.2009, 10 K 1010/07 E, EFG 2010, S. 562 (zu VI R 58/09)
Finanzgericht München, Urteil vom 18.08.2009, 2 K 4031/06, EFG 2009, S. 2014 (zu VI R 36/10)

Update vom 05.04.2012:

Der BFH hat in zwei weiteren Urteile seine geänderte Auffassung, wonach ein Arbeitnehmer nicht mehrere regelmäßige Arbeitsstätten nebeneinander innehaben kann, bestätigt.

Vorinstanzen
Finanzgericht Münster, Urteil vom 18.01.2011, 15 K 2392/07 E, EFG 2011, S. 1778 (VI R 36/11)
Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 24.11.2010, 7 K 1574/10 E, EFG 2011, S. 1516 (zu VI R 23/11)

Fundstellen
BFH, Urteil vom 19.01.2012, VI R 36/11
BFH, Urteil vom 19.01.2012, VI R 23/11

Update vom 27.09.2012: Mit Urteil vom 13.06.2012 hat der BFH seine neuere Rechtsprechung bekräftigt, wonach regelmäßige Arbeitsstätte die dauerhaft betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers ist, der der Arbeitnehmer zugeordnet ist und die er nachhaltig, fortdauernd und immer wieder aufsucht. Die Einrichtung eines Dritten (Kunde), in der der Arbeitnehmer tätig wird, wird auch dann nicht zur regelmäßigen Arbeitsstätte, wenn er dort längerfristig eingesetzt wird. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn der Arbeitgeber in der Betriebsstätte des Kunden über eine eigene betriebliche Einrichtung (Betriebsstätte) verfügt.
BFH, Urteil vom 13.06.2012, VI R 47/11

Fundstellen

BFH, Urteil vom 09.06.2011, VI R 55/10, BStBl II 2012, S. 38  
BFH, Urteil vom 09.06.2011, VI R 58/09, BStBl II 2012, S. 34
BFH, Urteil vom 09.06.2011, VI R 36/10, BStBl II 2012, S. 36

Weitere Fundstellen

BFH, Urteil vom 11.05.2005, VI R 25/04, BStBl II 2005, S. 791
BFH, Urteil vom 11.05.2005, VI R 15/04, BStBl II 2005, S. 788
BFH, Urteil vom 14.09.2005, VI R 93/04, BFH/NV 2006, S. 53
BFH, Urteil vom 07.06.2002, VI R 53/01, BStBl II 2002, S. 878
BFH, Urteil vom 22.09.2010, VI R 54/09, BStBl II 2011, S. 354, siehe ausführlicher in den Deloitte Tax-News
BFH, Urteil vom 04.04.2008, VI R 85/04, BStBl II 2008, S. 887
Spitzenverbände der gewerblichen Wirtschaft, Eingabe zur Reform des steuerlichen Reisekostenrechts vom 08.07.2011

Weitere Beiträge

BFH: Mehraufwendungen für die Verpflegung bei mehreren Tätigkeitsstätten

Ihre Ansprechpartner

Nils Hupfer | Hamburg
Jochen Schreiber | Düsseldorf

So werden Sie regelmäßig informiert:
Artikel teilen:
Diese Webseite verwendet Cookies, um Ihnen einen bedarfsgerechteren Service bereitstellen zu können. Indem Sie ohne Veränderungen Ihrer Standard-Browser-Einstellung weiterhin diese Seite besuchen, erklären Sie sich mit unserer Verwendung von Cookies einverstanden. Möchten Sie mehr Informationen zu den von uns verwendeten Cookies erhalten und erfahren, wie Sie den Einsatz unserer Cookies unterbinden können, lesen Sie bitte unsere Cookie Notice.