BFH: Begrenzung des steuerlichen Rückstellungsansatzes durch die Handelsbilanz
Der Handelsbilanzwert für Nachsorgerückstellungen bildet auch nach Inkrafttreten des BilMoG gegenüber einem höheren steuerrechtlichen Rückstellungswert die Obergrenze. Der maßgebliche Handelsbilanzwert bestimmt sich auch unter Berücksichtigung des Beibehaltungswahlrechts des Art. 67 Abs. 1 S. 2 EGHGB. Dieses handelsrechtliche Wahlrecht ist auch in der Steuerbilanz anzuerkennen.
Sachverhalt
Strittig war, ob in der Steuerbilanz die Bewertung von Deponierückstellungen nach den Bewertungsvorschriften des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG) zu erfolgen hat oder ob der handelsbilanzielle Wert nach Ausübung des Beibehaltungswahlrechts des Art. 67 Abs. 1 S. 2 EGHGB für den Steuerbilanzwert anzuerkennen ist.
Eine GmbH & Co. KG (KG) war Eigentümerin von abgeschlossenen Deponien, für welche sie Rückstellungen aufgrund von Rekultivierungs- und Nachsorgeverpflichtungen bildete. Bei der Erstellung der Handels- und Steuerbilanz auf den 31.12.2010 übte sie das Wahlrecht nach Art. 67 Abs. 1 S. 2 EGHGB zur Beibehaltung der Rückstellungswerte vor der erstmaligen Anwendung des BilMoG aus.
Finanzamt und FG sind der Meinung, die Nachsorgerückstellung sei unter Anwendung des BilMoG ohne steuerliche Anerkennung des Wahlrechts nach Art. 67 Abs. 1 S. 1 EGHGB festzusetzen.
Entscheidung
Der BFH widerspricht dem FG: Der Steuerbilanz sei nicht der unter erstmaliger Anwendung des § 253 Abs. 2 S. 1 HGB (niedrigere) abgezinste Erfüllungsbetrag (sog. BilMoG-Wert) zugrunde zu legen, sondern der von der KG angesetzte (höhere) handelsbilanzielle Rückstellungswert, der sich nach Ausübung des Wahlrechts gem. Art. 67 EGHGB ergeben hat.
Bewertung einer Sachleistungsrückstellung
Für die Bewertung einer im Streitfall vorliegenden Sachleistungsrückstellung sieht § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG vor, dass Rückstellungen "höchstens
insbesondere" unter Berücksichtigung der in den Buchstaben a bis f genannten Grundsätze anzusetzen sind.
Die sich daraus ergebenden Rückstellungsbeträge dürfen den zulässigen Ansatz nach der Handelsbilanz nicht überschreiten (vgl. BFH-Urteil vom 20.11.2019, XI R 46/17).
Beibehaltungswahlrechts gem. Art. 67 Abs. 1 S. 2 EGHGB als Rechtsanwendungswahlrecht
Der handelsrechtliche Wertansatz bestimmt sich unter Berücksichtigung des Beibehaltungswahlrechts gem. Art. 67 Abs. 1 S. 2 EGHGB.
Das Wahlrecht räumt die Möglichkeit ein, Rückstellungen, die aufgrund der geänderten Bewertung von Verpflichtungen aufgelöst werden müssten, beibehalten zu dürfen, soweit der aufzulösende Betrag bis zum 31.12.2024 wieder zugeführt werden müsste. Damit wurde die Möglichkeit geschaffen, die bis zum 31.12.2009 nach altem Recht gebildeten Rückstellungen der Höhe nach beizubehalten, um so zeitlich befristete Rückstellungsauflösungen zu vermeiden.
Bei dem Beibehaltungswahlrecht gem. Art. 67 Abs. 1 S. 2 EGHGB handelt es sich nach der Rechtsprechung um intertemporales Recht, das keine Regelung des sachlichen Rechts beinhaltet, sondern Rechtsanwendungsregeln bereitstellt, welche die Kollision verschiedener Normen nach zeitlichen Gesichtspunkten auflösen. Nach Ansicht des BFH begründet Art. 67 Abs. 1 S. 2 EGHGB ein Rechtsanwendungswahlrecht, denn es beziehe sich nicht auf den Wertansatz selbst, sondern auf das für den Wertansatz maßgebliche Recht. Werde das Wahlrecht ausgeübt, komme es zu einem nach Maßgabe des "alten Rechts" GoB-konformen Wertansatz. Dieser Wert bilde den maßgeblichen handelsbilanziellen Wert. Nimmt der Steuerpflichtige das Wahlrecht nicht in Anspruch, so bilde der sich bei erstmaliger Anwendung des § 253 Abs. 2 S. 1 HGB ergebende, ebenfalls den GoB entsprechende (niedrigere) abgezinste Erfüllungsbetrag (BilMoG-Wert) den maßgeblichen handelsbilanziellen Wert.
Verhältnis von handelsrechtlichen und steuerrechtlichen (Passivierungs-)Wahlrechten
Nach der BFH-Rechtsprechung führen handelsrechtliche Wahlrechte, auch soweit sie sich auf die Bewertung von Wirtschaftsgütern beziehen, steuerlich zum Ansatz des höchsten nach dem Handels- und Steuerrecht zulässigen Wertes, soweit nicht auch nach dem Steuerrecht ein entsprechendes Bilanzierungswahlrecht besteht. Übertragen auf die steuerliche Bewertung von Rückstellungen folgt hieraus, dass ein entsprechendes handelsrechtliches Wahlrecht zum Ansatz des niedrigsten zulässigen Wertes führt, soweit nicht auch nach dem Steuerrecht ein Bilanzierungswahlrecht besteht.
Keine Übertragung dieser Grundsätze auf das Beibehaltungswahlrecht des Art. 67 Abs. 1 S. 2 EGHGB
Das Beibehaltungswahlrecht des Art. 67 Abs. 1 S. 2 EGHGB unterscheide sich als intertemporales Rechtsanwendungswahlrecht bereits dem Grunde nach von einem materiellen Ansatz- oder Bewertungswahlrecht, da es die einmalige Möglichkeit gewährt, die nach Maßgabe der alten Rechtslage gebildete Rückstellung fortzuführen. Es werde kein Wahlrecht zwischen mehreren vertretbaren Rechtsansichten zur Bewertung der Rückstellung eingeräumt.
Außerdem nehme die steuerrechtliche Grundlage für die Anerkennung des Wahlrechts in § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG Bezug auf den Handelsbilanzwert der Rückstellung und schreibe diesen als Obergrenze fest. Sie bestimmt somit den Handelsbilanzwert für die Rückstellung auch nach Inkrafttreten des BilMoG gegenüber einem höheren steuerrechtlichen Rückstellungswert als Obergrenze (vgl. BFH-Urteil vom 20.11.2019, XI R 46/17). Dies gilt unabhängig davon, ob im konkreten Einzelfall ein Wahlrecht besteht und ob es ausgeübt wurde oder nicht.
Der von § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG in Bezug genommene maßgebliche Handelsbilanzwert sei danach auch jener, der sich nach (zulässiger) Ausübung des Wahlrechts gemäß Art. 67 Abs. 1 S. 2 EGHGB ergibt. Die Berücksichtigung des handelsrechtlichen Wahlrechts beruhe mithin auf der steuerrechtlichen Regelung des § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG (vgl. BFH-Urteil vom 20.11.2019, XI R 46/17).
Betroffene Normen
§ 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG, Art. 67 Abs. 1 EGHGB
Streitjahr 2010
Vorinstanz
FG Münster, Urteil vom 27. Juni 2019, Az: 8 K 2873/17 F, siehe Deloitte Tax News
Fundstelle
BFH, Urteil vom 09.03.2023, IVR 24/19, BStBl II 2023, S. 698
Weitere Fundstellen
BFH, Urteil vom 20.11.2019, XI R 46/17, BStBl II 2020, 195, siehe Deloitte Tax News
BFH, Urteil vom 13.07.2017, IV R 34/14, siehe Deloitte Tax News