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15.03.2013
Verfahrensrecht

BFH: Keine periodenbezogene Auslegung des bestimmten Sachverhalts bei widerstreitenden Steuerfestsetzungen

Im Rahmen der Änderung bestandskräftiger Steuerbescheide nach § 174 Abs. 4 AO ist der bestimmten Sachverhalt nicht auf einen Veranlagungszeitraum zu begrenzen. Es ist vielmehr der einheitliche, für die Besteuerung maßgebliche Sachverhaltskomplex zu erfassen, aus dem die richtigen steuerlichen Folgerungen ohne Rücksicht auf den Besteuerungszeitraum zu ziehen sind.

Sachverhalt

Der Kläger war von 1990 bis 1992 an einer irischen Kapitalanlagegesellschaft B beteiligt. Das Vermögen der B bestand aus verschiedenen Wertpapieren, aus denen sie Erträge erzielte. Die Erträge aus der Beteiligung behandelte der Kläger nach dem DBA Irland als steuerfreie Ausschüttungen. Das Finanzamt sah in der „Zwischenschaltung“ der B einen Gestaltungsmissbrauch nach § 42 AO und löste den Bilanzposten „Beteiligung“ – unter dem der Kläger die Anteile an der B erfasste – gewinnmindernd auf. Stattdessen erfasste es erfolgswirksam unter dem Bilanzposten „Sammelposten“ die Wertpapiere, Geldkonten etc. der B. Dies führte im Ergebnis zu einer niedrigeren Körperschaftsteuerfestsetzung im Streitjahr 1990 und höheren Körperschaftsteuerfestsetzungen in den Folgejahren 1991 und 1992.

Infolge der Urteile vom 19.01.2000, in denen der BFH entschieden hatte, dass die Beteiligung einer inländischen Kapitalgesellschaft an Kapitalanlagegesellschaften im niedrig besteuerten Ausland nicht rechtsmissbräuchlich i.S.d. § 42 AO ist, wenn die ausländische Gesellschaft auf eine gewisse Dauer angelegt ist und über ein Mindestmaß an personeller und sachlicher Ausstattung verfügt, die die unternehmerische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit sicherstellt, wurde die Beteiligung an der B nicht länger als rechtsmissbräuchlich angesehen. Dementsprechend setzte das Finanzamt die Körperschaftsteuer für die Folgejahre 1991 und 1992 herab. Die Körperschaftsteuer für das Jahr 1990 setzte es jedoch mit Verweis auf § 174 Abs. 4 AO herauf.

Entscheidung

Die Revision des Finanzamts ist begründet. Die Vorinstanz hat zu Unrecht eine Änderung des Körperschaftsteuerbescheids für 1990 zu Lasten des Klägers abgelehnt.

Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden (§ 174 Abs. 4 S. 1 AO). Irrige Beurteilung eines Sachverhalts bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts nachträglich als unrichtig erweist (vgl. BFH-Urteil vom 16.02.1996). Der Begriff des bestimmten Sachverhalts ist dabei nicht auf eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes steuerrechtlich bedeutsames Merkmal beschränkt, sondern erfasst den einheitlichen, für diese Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex (vgl. z.B. BFH vom 22.08.1990 und vom 18.02.1997). Entscheidend ist, dass aus demselben unveränderten und nicht durch weitere Tatsachen ergänzten Sachverhalt andere steuerliche Folgen in einem anderen Steuerbescheid gegenüber dem Steuerpflichtigen zu ziehen sind (BFH-Urteil vom 18.02.1997). Im Gegensatz zu § 174 Abs. 1 bis Abs. 3 AO ist § 174 Abs. 4 AO eine eigenständige Änderungsnorm, die das Merkmal, dass sich ein bestimmter Sachverhalt nur einmal auswirken darf, nicht enthält.

Im Streitfall liegen die Voraussetzungen für eine Änderung des streitgegenständlichen Körperschaftsteuerbescheids nach § 174 Abs. 4 AO vor.

Den bestimmten Sachverhalt für die Rechtsfrage, ob die Zwischenschaltung der B in Irland als missbräuchlich i.S.v. § 42 AO anzusehen ist, bildet das Halten der Beteiligung an der B in den Jahren 1990 bis 1992 und die damit einhergehende Erzielung von Einnahmen (maßgeblicher Sachverhaltskomplex). An diesen Lebensvorgang werden durch § 42 AO die richtigen steuerlichen Folgen – entgegen der Vorinstanz – nicht nur für das Jahr 1990, sondern für die Jahre 1990 bis 1992 geknüpft.

Da § 174 Abs. 4 AO den "bestimmten Sachverhalt" nicht auf einen Veranlagungszeitraum begrenzt, können die "richtigen steuerlichen Folgerungen" auch nicht nur in diesem Veranlagungszeitraum gezogen werden. Der Einheitlichkeit des Lebensvorgangs steht auch nicht die Abschnittsbesteuerung entgegen. Zwar müssen nach dem ertragsteuerlichen Periodizitätsprinzip alle für die Entstehung eines Steueranspruchs bedeutsamen Tatsachen innerhalb eines Veranlagungszeitraums gegeben sein und daher für jeden Veranlagungszeitraum gesondert geprüft werden. Jedoch findet sich dieses Prinzip nicht in der Abgabenordnung wieder und § 149 Abs. 1 AO überlässt dessen Umsetzung auch ausdrücklich den Einzelsteuergesetzen.

Der BFH schließt sich nicht der Auffassung der Vorinstanz an, wonach bei gleichförmigen, über mehrere Veranlagungszeiträume verwirklichten Lebenssachverhalten eine Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen zu begrenzen sei, da die Vorschrift des § 174 Abs. 4 AO es nicht erlaube, sämtliche bereits bestandskräftig veranlagten Jahre zu Gunsten des Steuerpflichtigen, der in einem Veranlagungszeitraum die Aufhebung eines ihn belastenden Steuerbescheides wegen der bis dahin irrigen Beurteilung des Sachverhalts erstreite, zu ändern.

Die „einseitige“ Wirkung der Norm, die steht nach Ansicht des BFH vielmehr im Einklang mit dem Zweck der Vorschrift, wonach bei einer antragsgemäßen Änderung des Steuerbescheides zu Gunsten des betroffenen Steuerpflichtigen der Finanzverwaltung die Durchsetzung des sich aus demselben Sachverhalt ergebenden materiell-rechtlich richtigen Steueranspruchs ermöglicht werden soll (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 11.07.1991). Damit gibt der Gesetzgeber dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit in den Fällen des § 174 Abs. 4 S. 1 AO den Vorzug gegenüber der Bestandskraft. Die Regelung bezweckt damit lediglich den Ausgleich einer zu Gunsten des Steuerpflichtigen eingetretenen Änderung; wer erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten hat, muss auch die damit verbundenen Nachteile hinnehmen (BFH-Urteil vom 10.03.1999 und BFH-Beschluss vom 21.05.2004).

Der BFH stellt darüber hinaus klar, dass § dass § 174 Abs. 4 S. 1 AO nicht verlangt, die richtigen steuerrechtlichen Folgerungen aus einem Sachverhalt nur in einem Steuerbescheid zu ziehen. Die irrige Beurteilung des Sachverhalts kann sich in mehreren Besteuerungsabschnitten auswirken und dementsprechend die Änderung der Steuerbescheide für mehrere Veranlagungszeiträume erforderlich machen.

Betroffene Norm
§ 174 Abs. 4 AO
Streitjahr 1990

Vorinstanz
Finanzgericht Köln, Urteil vom 09.06.2011, 13 K 3702/07, EFG 2011, S. 1856, siehe Deloitte Tax-News

Fundstelle
BFH, Urteil vom 14.11.2012, I R 53/11, nicht amtlich veröffentlicht

Weitere Fundstellen
BFH, Beschluss vom 21.05.2004, V B 30/03,
BFH, Urteil vom 19.01.2000, I R 94/97, BStBl II 2001, S. 222
BFH, Urteil vom 19.01.2000, I R 117/97, IStR 2000, S. 182
BFH, Urteil vom 10.03.1999, XI R 28/98, BStBl II 1999, S. 475
BFH, Urteil vom 18.02.1997, VIII R 54/95, BStBl II 1997, S. 647
BFH, Urteil vom 16.02.1996, I R 150/94, BStBl II 1996, S. 417
BFH, Urteil vom 02.08.1994, VIII R 65/93, BStBl II 1995, S. 264
BFH, Urteil vom 11.07.1991, IV R 52/90, BStBl II 1992, S. 126
BFH, Urteil vom 22.08.1990, I R 42/88, BStBl II 1991, S. 387
BFH, Urteil vom 24.11.1987, IX R 158/83, BStBl II 1988, S. 404

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