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10.02.2012
Private Einkommensteuer

BFH: Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte - Offensichtlich verkehrsgünstigere Straßenverbindung

Sachverhalt

In beiden Fällen ist strittig, unter welchen Voraussetzungen die Entfernungspauschale für einen anderen als den kürzesten Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in Anspruch genommen werden kann.

VI R 19/11
Die Kläger (Eheleute) machten in der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2006 bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte geltend. Die einfache Wegstrecke zu seinem Arbeitsplatz setzte der Kläger mit 69 km an. Die Klägerin machte Fahrten zu ihrem Arbeitsplatz mit 30 km geltend. Das Finanzamt berücksichtigte bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit lediglich Fahrtkosten auf der Grundlage einer einfachen Entfernung von 55 km. Bei der Klägerin legte es 22 km zugrunde. Das FG hat die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage abgewiesen, weil bei Zugrundelegen einer anderen als der kürzesten Straßenverbindung stets eine zu erwartende Fahrtzeitverkürzung von mindestens 20 Minuten erforderlich sei.

VI R 46/10
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) machte in der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2006 bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte geltend. Die einfache Wegstrecke zu seinem Arbeitsplatz setzte er mit 56 km an. Das Finanzamt berücksichtigte lediglich Fahrtkosten auf der Grundlage einer einfachen Entfernung von 44 km. Das FG gab der hiergegen erhobenen Klage teilweise statt und berücksichtigte bei der Berechnung der Entfernungspauschale eine vom Kläger tatsächlich nicht benutzte Verbindung, die dem FG offensichtlich verkehrsgünstiger erschien.

Entscheidung

VI R 19/11
Die Revision der Kläger ist begründet. Nach § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG können Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit abgezogen werden. Für die Bestimmung der Entfernung ist die kürzeste Straßenverbindung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte maßgebend. Eine andere als die kürzeste Straßenverbindung kann zugrunde gelegt werden, wenn diese offensichtlich verkehrsgünstiger ist und vom Arbeitnehmer regelmäßig für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte benutzt wird (§ 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 S. 4 EStG).

Nach der Rechtsprechung des BFH, der sich die Finanzverwaltung angeschlossen hat, ist eine Straßenverbindung dann als verkehrsgünstiger als die kürzeste Verbindung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte anzusehen, wenn der Arbeitnehmer eine andere - längere - Straßenverbindung nutzt und auf diese Weise die Arbeitsstätte trotz gelegentlicher Verkehrsstörungen in der Regel schneller und pünktlicher erreicht (BFH-Urteil vom 10.10.1975, BFH-Beschluss vom 10.04.2007, BMF-Schreiben vom 11.12.2001). "Offensichtlich" verkehrsgünstiger ist die vom Arbeitnehmer gewählte Straßenverbindung dann, wenn ihre Vorteilhaftigkeit so auf der Hand liegt, dass sich auch ein unvoreingenommener, verständiger Verkehrsteilnehmer unter den gegebenen Verkehrsverhältnissen für die Benutzung der Strecke entschieden hätte.

Konkrete zeitliche Vorgaben, die erfüllt sein müssen, um eine Straßenverbindung als "offensichtlich verkehrsgünstiger" als die kürzeste Fahrtroute anzusehen, gibt die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht vor. Soweit in der Rechtsprechung der Finanzgerichte (vgl. FG Düsseldorf, Urteil vom 18.07.2005, Hessisches FG, Urteil vom 25.09.2006) eine Zeitersparnis von mindestens 20 Minuten für erforderlich gehalten wird, ist dem in dieser Allgemeinheit nicht zu folgen. Insbesondere kann nicht in jedem Fall eine Zeitersparnis von 20 Minuten gefordert werden, weil § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 S. 4 EStG für jeglichen Arbeitsweg anzuwenden ist und bei einer solchen Auslegung für kürzere Strecken, beispielsweise wenn die Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte auf der kürzesten Strecke regelmäßig nur etwa 20 Minuten dauert, praktisch keinen Anwendungsbereich mehr hätte, weil in diesem Fall eine zeitliche Verkürzung auf der schnellsten Strecke nicht mehr als 20 Minuten ergeben könnte. Hieraus ist ersichtlich, dass zeitliche Erfordernisse ins Verhältnis zur Gesamtdauer der Fahrten gesetzt werden müssen. Entsprechend ist die Frage, ob eine Straßenverbindung als "offensichtlich verkehrsgünstiger" als die kürzeste Route angesehen werden kann, nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen. Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass das Merkmal der Verkehrsgünstigkeit auch andere Umstände als eine Zeitersparnis beinhaltet. So kann eine Straßenverbindung auch dann "offensichtlich verkehrsgünstiger" sein als die kürzeste Verbindung, wenn sich dies aus Umständen wie Streckenführung, Schaltung von Ampeln o.Ä. ergibt. Deshalb kann eine "offensichtlich verkehrsgünstigere" Straßenverbindung auch vorliegen, wenn nur eine relativ geringe oder gar keine Zeitersparnis zu erwarten ist, sich die Strecke jedoch aufgrund anderer Umstände als verkehrsgünstiger erweist als die kürzeste Verbindung.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen. Die Feststellungen des FG ermöglichen keine abschließende Entscheidung des Streitfalls. Im zweiten Rechtsgang wird das FG, ggf. im Wege einer Beweisaufnahme, feststellen, ob die von den Klägern für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte regelmäßig benutzten Straßenverbindungen "offensichtlich verkehrsgünstiger" waren als die jeweils kürzeste Route.

VI R 46/10
Zu vergleichen sind die kürzeste und die vom Arbeitnehmer regelmäßig für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte benutzte längere Straßenverbindung. Weitere mögliche, tatsächlich aber nicht benutzte Fahrtstrecken zwischen Wohnung und Arbeitsstätte bleiben dagegen unberücksichtigt. Dies folgt zunächst aus dem Wortlaut des § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 S. 4 EStG. Der Gesetzeswortlaut benennt für die Berücksichtigung einer "anderen als der kürzesten Straßenverbindung" zwei Voraussetzungen: Sie muss offensichtlich verkehrsgünstiger als die kürzeste Straßenverbindung und vom Arbeitnehmer regelmäßig benutzt worden sein.

Deshalb ist die vom Arbeitnehmer benutzte Verbindung mit der nach dem Gesetz grundsätzlich als maßgeblich angesehenen kürzesten Verbindung zu vergleichen. Ist sie im angeführten Sinne "offensichtlich verkehrsgünstiger", ist sie der Besteuerung zugrunde zu legen. Der Gesetzeswortlaut sieht hingegen nicht vor, dass die vom Arbeitnehmer gefahrene Strecke verkehrsgünstiger als alle übrigen möglichen Verbindungen zwischen Wohn- und Arbeitsort sein muss, d.h. dass es sich um die verkehrsgünstigste Strecke überhaupt handeln muss.

Diese Auslegung des Gesetzes nach dem Wortlaut entspricht schließlich auch dem Vereinfachungsgedanken, der jeglicher Pauschalierung - so auch derjenigen des § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG - innewohnt. Würde man - wie die Vorentscheidung - verlangen, dass die vom Arbeitnehmer tatsächlich benutzte Fahrtstrecke die verkehrsgünstigste überhaupt sein muss, so hätte dies die Notwendigkeit umfangreicher Ermittlungen durch die Finanzbehörden und ggf. die Finanzgerichte einschließlich etwaiger Beweiserhebungen zur Folge. In jedem Einzelfall müsste unter Einbeziehung sämtlicher Streckenvarianten geprüft werden, welche Verbindung als am verkehrsgünstigsten anzusehen ist. Vergleicht man demgegenüber lediglich die - leicht feststellbare - kürzeste Verbindung mit der tatsächlich benutzten, hinsichtlich der der Steuerpflichtige Auskunft geben kann, so bleibt der Vereinfachungsgedanke der Norm erhalten.

Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen. Zum einen wird das FG feststellen, ob der Kläger die Verbindung, deren steuerliche Berücksichtigung er begehrt, tatsächlich regelmäßig zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zurückgelegt hat. Sodann wird es unter Zugrundelegung der tatsächlich regelmäßig gefahrenen Strecke feststellen, ob die Verbindung im Sinne der angeführten Rechtsgrundsätze offensichtlich verkehrsgünstiger war als die kürzeste Straßenverbindung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte.

Betroffene Norm

§ 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 S. 4 EStG
Streitjahr 2006

Anmerkung

BFH vom 19.04.2012: Offensichtlich verkehrsgünstigere Straßenverbindung
Im Rahmen der Bestimmung der kürzesten Straßenverbindung für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ist auch eine Fährverbindung einzubeziehen. Besonderheiten einer Fährverbindung wie Wartezeiten, technische Schwierigkeiten oder Auswirkungen der Witterungsbedingungen auf den Fährbetrieb können dazu führen, dass eine andere Straßenverbindung als "offensichtlich verkehrsgünstiger" anzusehen ist als die kürzeste Straßenverbindung.

Vorinstanz

Finanzgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.11.2010, 5 K 1482/08, EFG 2011, S. 1966 (zu VI R 19/11)
Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 31.08.2009, 11 K 242/08 E (zu VI R 46/10)

Fundstelle

BFH, Urteil vom 16.11.2011, VI R 19/11
BFH, Urteil vom 16.11.2011, VI R 46/10

Weitere Fundstellen

BFH, Urteil vom 10.10.1975, VI R 33/74, BStBl II 1975, S. 852
BFH, Beschluss vom 10.04.2007, VI B 134/06, BFH/NV 2007, S. 1309
BMF, Schreiben vom 11.12.2001, IV C 5-S 2351-300/01, BStBl I 2001, S. 994
Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 18.07.2005, 10 K 514/05 E, EFG 2005, S. 1852
Hessisches Finanzgericht, Urteil vom 25.09.2006, 1 K 1310/04

BFH, Urteil vom 19.04.2012, VI R 53/11, siehe Beitrag: BFH: Offensichtlich verkehrsgünstigere Straßenverbindung

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