Die Annahme einer Betriebsstätte bzw. festen Einrichtung im Dienstleistungsbereich setzt voraus, dass dem Dienstleistenden im Zusammenhang mit der Erbringung der Dienstleistung personenbeschränkte Nutzungsstrukturen an ortsbezogenen Geschäftseinrichtungen, z.B. Spind und Schließfach in Gemeinschaftsräumen, zur Verfügung gestellt werden.
BFH, Urteil vom 07.06.2023, I R 47/20
Der Kläger hatte in den Streitjahren 2008 bis 2014 sowohl einen inländischen Wohnsitz als auch einen Wohnsitz in Großbritannien (und einen dortigen Mittelpunkt der Lebensinteressen). Er ist Flugzeugingenieur und Inhaber von Lizenzen zur Wartung von Flugzeugen verschiedener Typen. Zugleich ist er alleiniger Gesellschafter und Director der X Ltd. mit (Satzungs-)Sitz in Großbritannien. Die X Ltd. verfügt über keine eigene Website und Telefonnummer. Die in Großbritannien erstellten Bilanzen der X Ltd. weisen im Jahr 2011 Gehaltszahlungen an den Kläger in seiner Funktion als Director aus.
Die in Großbritannien ansässige Y Ltd. hatte mit der A GmbH, einem inländischen Betreiber und Charterer von Flugzeugen, sogenannte Line Maintenance Agreements mit dem Gegenstand abgeschlossen, lizenziertes Flugzeugwartungspersonal (und deren Werkzeug) zu überlassen. Der Kläger und die Y Ltd. hatten einen "Freelancer Contract" abgeschlossen, worin der "Freelancer" verpflichtet wurde, flugzeugbezogene Wartungsleistungen als Subunternehmer des Auftraggebers zu erbringen. Der Vertrag wurde vom Kläger mit seinem Namen (ohne Zusatz, als Organ der X Ltd. zu handeln) unterzeichnet.
Der Kläger übte seine Tätigkeit auf dem Flughafengelände der A GmbH aus. Für die im Auftrag der Y Ltd. tätigen Ingenieure und Mechaniker waren auf diesem Gelände (in durch die Y Ltd. von der A GmbH angemieteten Räumen) Umkleide-, Verwaltungs- und Gemeinschaftsflächen vorhanden. Die Mitarbeiter hatten unter anderem einen verschließbaren Spind, um ihre Kleidung aufzubewahren. Die Dokumentation der am Flugzeug durchgeführten Arbeiten erfolgte im sogenannten Log-Buch des Flugzeugs in einem mit Computern ausgestatteten Raum der Y Ltd. neben dem Hangar. In diesem Raum hatte jeder Mitarbeiter ein Schließfach, in dem er persönliche Gegenstände wie Handy, Schlüssel, Geld u.s.w. aufbewahren konnte. Am Eingang des Gebäudes mussten sich die Mitarbeiter einer Sicherheitskontrolle unterziehen, anschließend konnten sie sich in dem Gebäude frei bewegen.
Eine beim Kläger stattgefundene Steuerfahndungsprüfung kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger ab April 2008 Einnahmen aus selbständiger Arbeit durch die Wartung von Flugzeugen erzielt habe. Als Flugzeugingenieur habe er seine Tätigkeit ausschließlich auf dem Flughafen erbracht. Dementsprechend behandelte das Finanzamt die Vergütungen des Klägers als unbeschränkt einkommensteuerpflichtige Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Das FG gab der dagegen erhobenen Klage statt. Der Kläger hatte erklärt, dass das ihm zur Verfügung gestellte Schließfach und der Umkleidespind zu klein seien, um sein Werkzeug darin aufzubewahren. Er führe sein Werkzeug in einer großen Kiste mit sich. Zwar sei es möglich, die Werkzeugkiste im Hangar zu belassen. Davon mache er jedoch aus Sicherheitsgründen keinen Gebrauch.
Der BFH hat das FG-Urteil aufgehoben. Die Voraussetzungen für das Vorliegen einer inländischen festen Einrichtung seien erfüllt. Die dort erzielten Einkünfte aus selbständiger Arbeit (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG) unterliegen der unbeschränkten Steuerpflicht, da das inländische Besteuerungsrecht durch das DBA-Großbritannien nicht ausgeschlossen ist.
Unbeschränkte Steuerpflicht
Der Kläger ist in Deutschland nach Maßgabe des § 1 Abs. 1 EStG mit Blick auf den inländischen Wohnsitz (§ 8 AO) unbeschränkt steuerpflichtig.
Freiberufliche Einkünfte
Der Kläger ist Zurechnungssubjekt der mittels des Freelancer Contracts erzielten Einkünfte, die als freiberufliche Einkünfte im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu qualifizieren sind.
DBA-Großbritannien
Nach dem DBA-Großbritannien werden Einkünfte, die eine in einem der Gebiete ansässige Person aus einem freien Beruf oder aus sonstiger selbständiger Tätigkeit ähnlicher Art bezieht, nur in diesem Gebiet besteuert, es sei denn, dass die Person für die Ausübung ihrer Tätigkeit in dem anderen Gebiet regelmäßig über eine feste Einrichtung verfügt. In diesem Fall kann der Teil der Einkünfte, der dieser Einrichtung zuzurechnen ist, in dem anderen Gebiet besteuert werden.
Besteuerung in Deutschland
Die Besteuerung in Deutschland ist abkommensrechtlich nicht gehindert, da die vom Kläger erzielten Tätigkeitseinkünfte durch Nutzung einer ihm in Deutschland regelmäßig zur Verfügung stehenden festen Einrichtung beziehungsweise einer Betriebsstätte erzielt wurden.
Annahme einer Betriebsstätte
Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Annahme einer Betriebsstätte gemäß § 12 S. 1 AO eine Geschäftseinrichtung oder Anlage mit einer festen Beziehung zur Erdoberfläche voraus, die von einer gewissen Dauer ist, der Tätigkeit des Unternehmens dient und über die der Steuerpflichtige eine nicht nur vorübergehende Verfügungsmacht hat (z.B. BFH-Urteil vom 23.03.2022, III R 35/20). Dazu muss in der Einrichtung oder Anlage eine eigene unternehmerische Tätigkeit mit fester örtlicher Bindung ausgeübt werden und sich in der Bindung eine gewisse "Verwurzelung" (im Sinne einer örtlichen Verfestigung) des Unternehmens mit dem Ort der Ausübung der unternehmerischen Tätigkeit ausdrücken.
Verfügungsmacht des Klägers
Der BFH kommt für den Streitfall zu dem Ergebnis, dass eine Verfügungsmacht des Klägers im Sinne einer Nutzungsmöglichkeit über die im Zusammenhang mit der Leistungserbringung unerlässlichen Räumlichkeiten (Hangar, Computerraum, Verwaltungs-/Aufenthalts- und Umkleideraum) bestanden hat. Dass die Verfügungsmacht keine alleinige war sowie eine (fremde) Sicherheitskontrolle beim Betreten des Geländes stattfand, hält der BFH für nicht relevant. Darüber hinaus fehle es im Streitfall auch nicht an der durch die Überlassung personenbeschränkter Nutzungsstrukturen bei Geschäftseinrichtungen (Spind und Schließfach) vermittelten ortsbezogenen "Verwurzelung" des Unternehmens des Klägers mit dieser Örtlichkeit (in der Ausgangslage ähnlich FG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.10.2021, 3 K 589/19, "Schreibtisch zur Mitbenutzung und ein Standcontainer zur alleinigen Nutzung"), so der BFH.
Dabei sei zu beachten, dass die Feststellung, dass der Kläger in dem ihm persönlich zugewiesenen Schließfach sein Werkzeug nicht aufbewahrt hat, eine betriebsbezogene Nutzung des personenbezogenen Spinds (Aufbewahren der Arbeitskleidung und dem Arbeitsschutz dienender Gegenstände außerhalb der konkreten Einsatzzeiten des Klägers) denkgesetzlich nicht ausschließe. Vielmehr sei der Spind auf der Grundlage betriebsbezogener Erfordernisse dazu geeignet und bestimmt, die private Kleidung während der Einsatzzeit und die Arbeitskleidung des Klägers außerhalb der Einsatzzeit aufzubewahren (Entsprechendes gelte für private Gegenstände und das Schließfach). Es komme nicht darauf an, ob die "Verwurzelung" im Rahmen der anzustellenden Gesamtwürdigung nur durch Komponenten vermittelt werde, die einen unmittelbaren Leistungsbezug aufweisen. Im Rahmen einer solchen Gesamtwürdigung sei auch zu berücksichtigen, dass zumindest die Möglichkeit bestanden habe, die persönliche Werkzeugkiste im Hangar zu deponieren.
Keine Einschränkung durch DBA-Begriff der Betriebsstätte
Diesem Ergebnis des BFH stehen auch die Anforderungen des DBA-Begriffs der Betriebsstätte nicht entgegen. Denn es lagen keine als Rückausnahme anzusehenden Funktionen untergeordneter Art vor, da die Gesamtsituation der (Mit-)Verfügungsmacht und der "Verwurzelung" an diesem Ort der Leistungserbringung der unmittelbaren unternehmerischen Tätigkeitsausübung des Klägers ("Haupttätigkeit") entspracht.
§ 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG, § 12 S. 1 AO
Streitjahr 2008 bis 2014
Einordnung des Urteils in die bisherige Rechtsprechung
In seinem Beschluss vom 09.01.2019, I B 138/17 (BFH/NV 2019, S. 681) hatte der BFH ausgeführt, dass ein Schließfach, das einem als Subunternehmer mit der Wartung von Flugzeugen befassten Ingenieur zur Aufbewahrung der von ihm zu stellenden Werkzeuge zur ausschließlichen Nutzung zur Verfügung steht, eine feste Einrichtung i.S. des DBA-Großbritannien 1964/1970 ist. Diese Entscheidung erweitert der BFH nun dahingehend, dass er die Möglichkeit, die persönliche Werkzeugkiste im Hangar zu deponieren, ausreichen lässt.
Sächsisches Finanzgericht, Urteil vom 08.10.2020, 3 K 49/17, EFG 2021, S. 1692
BFH, Urteil vom 07.06.2023, I R 47/20
BFH, Urteil vom 23.03.2022, III R 35/20, BStBl. II 2022, S. 844, siehe Deloitte Tax-News
FG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.10.2021, 3 K 589/19, EFG 2022, S. 88, BFH-anhängig: I R 47/21
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