Unter welchen Voraussetzungen ist die Verzinsung sachlich unbillig, wenn Umsätze dem falschen Voranmeldungszeitraum zugeordnet werden und zu spät deklariert werden?
Gemäß § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, zu denen auch Zinsansprüche gehören, ganz oder teilweise erlassen, wenn deren Einziehung unbillig ist (BFH, Urt. v. 26.09.2019, V R 13/18, BFHE 266, 16). Sachlich unbillig ist die Festsetzung einer Steuer oder eines Zinsanspruchs, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwiderläuft, dass ihre Erhebung unbillig erscheint. Das ist der Fall, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage – wenn er sie als regelungsbedürftig erkannt hätte – im Sinne der begehrten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (vgl. BFH, Urt. v. 20.09.2012, IV R 29/10, BStBl. II 2013, 505). Billigkeitsmaßnahmen dürfen die einem Tatbestand immanenten, gesetzgeberischen Wertung nicht korrigieren, sondern ungewollten Rechtsreflexen lediglich abhelfen (vgl. BFH, Urt. v. 26.09.2019, V R 13/18, BFHE 266, 16).
Für den Fall der einmaligen Periodenverschiebung hat der BFH entschieden, dass bei einer von den ursprünglichen Steuerfestsetzungen abweichenden zeitlichen Zuordnung eines Umsatzes durch die Finanzbehörde, die gleichzeitig zu einer Steuernachforderung und Steuererstattung führt, kein abschöpfbarer Zinsvorteil vorliegt (BFH, Urt. v. 11.07.1996, V R 18/95, BStBl. II 1997, 259; AEAO zu § 233a Nr. 70.2.4). Im Zusammenhang mit der wiederholten, zeitlich unrichtigen Zuordnung von Umsätzen hat der BFH in einem aktuellen Streitfall seine Rechtsprechung zur Frage konkretisiert, unter welchen Voraussetzungen Nachzahlungszinsen nach § 233a AO wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen sind.
Die Klägerin erbringt sonstige Leistungen durch Subunternehmer. Sie versteuert ihre Umsätze nach vereinbarten Entgelten und gibt monatliche Umsatzsteuer-Voranmeldungen ab. Eine Dauerfristverlängerung (§§ 46 ff. UStDV) liegt nicht vor. Im Rahmen einer Außenprüfung stellte der Prüfer fest, dass die Klägerin ihre deklarierten Umsätze überwiegend dem Voranmeldungszeitraum der Rechnungsstellung zugeordnet hatte, obwohl sie ihre Leistungen bereits im Vormonat erbracht hatte. Grund dafür war, dass die Klägerin regelmäßig erst nach Ablauf der Abgabefrist für den jeweiligen Voranmeldungszeitraum die für die Rechnungsstellung notwendigen Informationen von ihren Subunternehmern erhalten hatte. Die Außenprüfung ordnete die im Januar angemeldeten Umsätze jeweils dem Dezember des Vorjahres zu. Dementsprechend setzte das Finanzamt Zinsen in nicht unerheblicher Höhe fest. Die Klägerin stellte einen Erlassantrag. Nach Ansicht der Klägerin ist der Liquiditätsvorteil vor Beginn des Zinslaufs durch die mit der USt-Voranmeldung im Folgemonat überhöht deklarierten Umsätze entfallen. Das Finanzamt lehnte den Antrag ab. Die Klägerin habe die geschuldete Umsatzsteuer regelmäßig um einen Monat zu spät angemeldet und dadurch einen dauerhaften Liquiditätsvorteil erlangt. Dagegen wandte sich die Klägerin erfolgreich vor dem FG Baden-Württemberg. Das Finanzamt legte Revision ein.
Im vorliegenden Sachverhalt ging es darum, dass ein Unternehmer seine Umsätze in seinen Voranmeldungen einen Monat zu spät erklärt hat, ohne eine Dauerfristverlängerung beantragt zu haben. Die jahresübergreifenden Umsatzverlagerungen führten dazu, dass die Klägerin de facto die Vorteile einer Dauerfristverlängerung in Anspruch genommen hat, ohne die hierfür erforderliche Sonderzahlung geleistet zu haben. Die Liquiditätsvorteile, die dadurch bei der Klägerin eingetreten sind (in Höhe von jeweils einem Monat), sollten nach Ansicht des Finanzamts mit der Verzinsung nach § 233a AO abgeschöpft werden (was, nach Ansicht der Finanzverwaltung einen bis zu 56-monatigen Zinslauf rechtfertigte). Der BFH führt aus, dass das nicht der Fall ist. Ein dauerhafter Liquiditätsvorteil liegt nicht vor. Der unterjährige, jeweils monatliche Vorteil ist im Hinblick auf die Nachzahlungszinsen unerheblich. Der BFH wiederholt und vertieft im vorliegenden Fall seine Ausführungen aus dem Jahr 1996 (Urt. v. 11.07.1996, V R 18/95). Danach dient § 233a AO der Abschöpfung von Liquiditätsvorteilen, sanktioniert aber nicht die vorsätzliche oder leichtfertige unzutreffende Deklaration von Umsätzen. Zinsen nach § 233a AO sind weder Sanktions- noch Druckmittel oder Strafe, sondern laufzeitabhängige Gegenleistung für eine mögliche Kapitalnutzung (AEAO zu § 233a Nr. 69.2). Für eine Verzinsung einer Steuernachforderung ist kein Raum, wenn dem Steuerpflichtigen kein Liquiditätsvorteil erwachsen ist. Die Steuer für die im Dezember ausgeführten Umsätze, die erst im Januar angemeldet wurden, ist rechtzeitig entrichtet worden, so dass der Zinsvorteil aus der einmonatigen Verspätung bereits entfallen war, bevor der Zinslauf nach § 233a Abs. 2 S. 1 AO begonnen hat. Die Notwendigkeit einer Abschöpfung bestand daher nicht. Für den Fall mehrerer aufeinanderfolgenden Umsatzverlagerungen folgt der BFH der Rechtsauffassung des FG, wonach Liquiditätsvorteile, die durch eine verspätete Anmeldung von im Vormonat ausgeführten Umsätzen unterjährig entstehen, in die Billigkeitsbetrachtung nicht einzubeziehen sind.
Bei der Umsatzbesteuerung kommt es häufig vor, dass eine fehlerhafte Steuerfestsetzung gegenüber der zutreffenden Steuerfestsetzung nicht zu einem Liquiditätsvorteil führt. Fehlerhaft beurteilte Geschäftsveräußerungen im Ganzen oder unzutreffend nach dem Reverse-Charge Verfahren besteuerte Umsätze seien als Beispiel genannt. Weil es in diesen Fällen an einem abschöpfbaren Vorteil fehlt, ist regelmäßig eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO im Festsetzungsverfahren bzw. nach § 227 AO im Erhebungsverfahren geboten. In diese Richtung deutet neben dem vorliegenden Urteil auch die vielbeachtete Zinsentscheidung des BVerfG (Beschluss des BVerfG v. 18.08.2021, 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17). Diese Erkenntnis setzt sich innerhalb der Finanzverwaltung erst allmählich durch.
§ 227 AO, § 233a AO, § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a UStG
Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 04.08.2020, 1 K 610/18, EFG 2021, S. 518 ff
BFH, Urteil vom 23.02.2023, V R 30/20
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