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26.01.2016
Unternehmensrecht

EuGH: Aufhebungsvertrag nach geänderten Arbeitsbedingungen als Entlassung i.S.d. Massenentlassungsrichtlinie

Eine „Entlassung“ i.S.d. Massenentlassungsrichtlinie liegt auch dann vor, wenn ein Arbeitgeber einseitig und zu Lasten des Arbeitnehmers aus nicht in dessen Person liegenden Gründen eine erhebliche Änderung der wesentlichen Bestandteile des Arbeitsvertrags vornimmt und das Arbeitsverhältnis als Reaktion darauf im Wege eines Aufhebungsvertrags beendet wird.

Sachverhalt

Auf Veranlassung des Arbeitsgerichts Barcelona (Spanien) hatte sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit mehreren Auslegungsfragen in Bezug auf Artikel 1 der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG zu befassen. Der Vorlage lag der Fall eines Arbeitnehmers zugrunde, dem aus wirtschaftlichen und produktionsbedingten Gründen gekündigt worden war. Der Arbeitnehmer hielt seine Entlassung für unwirksam, weil sein Arbeitgeber im Zusammenhang mit der Kündigung seines Arbeitsverhältnisses und dem Ausspruch weiterer Kündigungen das Verfahren für eine Massenentlassung hätte durchführen müssen. Die Beantwortung der Frage, ob die numerische Schwelle erreicht wurde, bei der die Durchführung eines Massenentlassungsverfahrens erforderlich gewesen wäre, hängt insbesondere mit den Bedingungen zusammen, unter denen das Arbeitsverhältnis einer anderen Arbeitnehmerin beendet worden ist. Diese hatte zunächst vom Arbeitgeber eine Mitteilung über die Änderung ihrer Vertragsbedingungen, nämlich eine Kürzung ihres Festgehalts um 25% erhalten – aus den gleichen objektiven Gründen, auf denen die Kündigung des Arbeitnehmers beruhte – und forderte dann wenige Tage später den Abschluss eines Aufhebungsvertrags ein.

In diesem Zusammenhang ist die Besonderheit zu berücksichtigen, dass nach spanischem Recht ein Arbeitgeber unter bestimmten Voraussetzungen einseitig eine wesentliche Änderung der Arbeitsbedingungen (z.B. Kürzung der Vergütung) herbeiführen kann und der Arbeitnehmer eine Vertragsaufhebung unter Zahlung einer Abfindung verlangen kann, wenn der Arbeitgeber diese Voraussetzungen nicht beachtet.

Der EuGH hatte demnach u.a. die Frage zu klären, ob es auch unter den Begriff der „Entlassung“ i.S.d. Massenentlassungsrichtlinie fällt, wenn ein Arbeitgeber einseitig und zu Lasten des Arbeitnehmers aus nicht in dessen Person liegenden Gründen eine erhebliche Änderung der wesentlichen Bestandteile des Arbeitsvertrags vornimmt und der Arbeitnehmer daraufhin den Abschluss eines Aufhebungsvertrags verlangt.

Entscheidung

Der EuGH vertritt in seinem Urteil vom 11. November 2015 (C-422/14) die Auffassung, „Entlassung“ sei jede vom Arbeitnehmer nicht gewollte, also ohne seine Zustimmung erfolgte Beendigung des Arbeitsvertrags, wobei eine solche auch dann vorliege, wenn der Arbeitnehmer als Reaktion auf eine einseitige, vom Arbeitgeber veranlasste wesentliche Verschlechterung seiner Bezüge die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses in Form eines Aufhebungsvertrags gegen Zahlung einer Abfindung verlange.

Betroffene Normen

Artikel 1 der RL98/59/EG des Rats vom 20.07.1998; § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG)

Anmerkungen

Gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er – jeweils in Abhängigkeit der Betriebsgröße, d.h. der Anzahl der i.d.R. beschäftigten Arbeitnehmer – eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt.

Den Entlassungen stehen gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom Arbeitgeber veranlasst werden. Dazu zählen nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) u.a. Auflösungsverträge, die unter dem Eindruck einer beabsichtigten arbeitgeberseitigen Kündigung geschlossen werden (BAG 11.03.1999 AP KSchG 1969 § 17 Nr. 12) sowie Eigenkündigungen des Arbeitnehmers, wenn der Arbeitnehmer damit einer betriebsbedingten Kündigung zuvorkommt (BAG 28.06.2012 NZA 2012, 1029 Rn. 48). Die Relevanz der zuletzt genannten Fallgruppe der Eigenkündigung hat das BAG erst kürzlich bestätigt (BAG U.v. 19.03.2015 – 8 AZR 119/14).

Der EuGH geht mit seiner Entscheidung sogar noch einen Schritt weiter. Zunächst weist der EuGH darauf hin, dass es sich bei dem Begriff „Entlassung“ um einen unionsrechtlichen Begriff handelt, der nicht anhand der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten bestimmt werden kann, sondern vielmehr dahingehend auszulegen sei, dass er jede vom Arbeitnehmer nicht gewollte, also ohne seine Zustimmung erfolgte, Beendigung des Arbeitsvertrags umfasst.

Außerdem ergebe sich aus seiner früheren Rechtsprechung – so der EuGH –, dass sich „Entlassungen“ von Beendigungen des Arbeitsvertrags durch die fehlende Zustimmung des Arbeitnehmers unterscheiden. Im hier zu entscheidenden Fall könnte, da es die Arbeitnehmerin war, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangt hatte, auf den ersten Blick angenommen werden, dass sie dieser Beendigung zugestimmt habe. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses beruhe jedoch darauf, dass der Arbeitgeber aus nicht in der Person der Arbeitnehmerin liegenden Gründen einen wesentlichen Bestandteil des Arbeitsvertrags einseitig abgeändert habe.

Ferner dürfe der Begriff der „Entlassung“, der den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen verstärken solle, nicht eng ausgelegt werden.

Überdies seien der Schutz und die Rechte, die den Arbeitnehmern nach der Massenentlassungsrichtlinie zukämen, unmittelbar an den Begriff „Entlassung“ geknüpft. Dieser Begriff wirke sich damit direkt auf die mit diesem Schutz verbundenen Belastungen aus. Daher würde – so der EuGH – jede nationale Regelung oder Auslegung dieses Begriffs, die darauf hinausliefe, dass die Kündigung des Arbeitsvertrags in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens keine „Entlassung“ wäre, deren Anwendungsbereich verändern und ihr damit ihre volle Wirksamkeit nehmen.

In praktischer Hinsicht und mit Blick auf die Rechtslage in Deutschland ist zunächst anzumerken, dass – anders als im spanischen Recht – eine einseitige Entgeltkürzung durch den Arbeitgeber – wenn überhaupt – nur im Wege einer Änderungskündigung möglich wäre. Allerdings könnte man den Begriff der „Entlassung“ i.S.d. § 17 KSchG dahingehend erweitern, dass schon der Versuch des Arbeitgebers, die Vergütung eines Arbeitnehmers zu reduzieren oder andere Arbeitsbedingungen zum Nachteil des Arbeitnehmers zu verändern als Veranlassung gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG zu sehen sein könnte, sofern in der Folge das betreffende Arbeitsverhältnis im Wege eines Aufhebungsvertrags beendet wird.

Ihr Ansprechpartner

Klaus Heeke
Partner

kheeke@deloitte.de
Tel.: 0211 8772-3107

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