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13.12.2016
Verfahrensrecht

FG Hamburg: Grenzen der Rückforderung von Kapitalertragsteuer aus Cum/Ex-Geschäften

Mit rechtskräftigem Beschluss vom 14.10.2016 über die Aussetzung der Vollziehung einer geänderten Anrechnungsverfügung 2006 vom 18.07.2016 hat das FG Hamburg die Rückforderung von Kapitalertragsteuer, Solidaritätszuschlag zzgl. Zinsen aus mutmaßlichen Cum/Ex-Geschäften einstweilen gestoppt.

Sachverhalt

Am 22.10.2007 erließ der Antragsgegner (das FA) einen KSt-Bescheid 2006. Das FA setzte KSt 2006 fest. Es rechnete KapESt aus drei Aktien-Transaktionen aus dem Jahr 2006 an. Nach Verrechnung mit der GewSt 2006 erstattete es den Anrechnungsüberhang an die Antragstellerin (eine GmbH).

Ab März 2014 prüfte ein FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung Gesellschafter diverser Kapitalgesellschaften, die in den Jahren 2006 bis 2011 Cum/Ex-Geschäfte mit Leerverkäufern getätigt haben sollen. Die GmbH gehöre zu diesen Investoren. Die vertraglichen Grundlagen dieses Investments seien Gegenstand des BFH-Urteils vom 16.04.2014 (siehe Deloitte Tax-News) gewesen. Die KapESt-Anrechnungen 2006 der GmbH seien zu versagen, soweit dies verfahrensrechtlich noch möglich ist.

Am 18.07.2016 erließ das FA eine geänderte Anrechnungsverfügung 2006. Das FA änderte sie nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO. Es forderte KapESt, SoliZ zzgl. Zinsen zurück.

Dagegen legte die GmbH Einspruch ein und beantragte, deren Vollziehung auszusetzen (AdV). Daraufhin ergänzte das FA, der vorliegende Sachverhalt entspreche demjenigen des BFH-Urteils vom 16.04.2014. Insofern liege eine Angabe der GmbH gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO vor. Das FA lehnte den AdV-Antrag ab. Sodann legte die GmbH Einspruch gegen die AdV-Ablehnung ein: Die Zahlungsverjährung sei mit Ablauf des Jahres 2012 eingetreten. Über diesen Einspruch hat das FA noch nicht entschieden.

Schließlich (vmtl. wegen nahender Fälligkeit der Rückforderungsbeträge, Anm. d. Verf.) stellte die GmbH einen gerichtlichen AdV-Antrag. Das FA erwiderte, die GmbH habe durch ihre Angaben in der Steuererklärung und durch die vorgelegten Bescheinigungen zu Unrecht den Eindruck erweckt, dass anrechenbare Steuer vorläge. Darin läge auch ein unlauteres Mittel, § 130 Abs. 2 Nr. 2 AO. Zahlungsverjährung sei noch nicht eingetreten, denn durch die Änderung der Anrechnungsverfügung 2006 im Jahr 2016 sei ein Rückzahlungsanspruch erstmalig entstanden und fällig geworden. Deshalb werde die Zahlungsverjährung mit Ablauf des Kalenderjahres 2016 erst beginnen.

Entscheidung

Das FG Hamburg hat dem gerichtlichen AdV-Antrag stattgegeben.

Es hat beschlossen, dass die Vollziehung der geänderten Anrechnungsverfügung 2006 vom 18.07.2016 bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung und ohne Sicherheitsleistung ausgesetzt wird.

Betroffene Norm

§ 69 FGO, § 361 AO, § 229 AO, § 220 AO, § 130 AO

Anmerkungen

Der Beschluss des 3. Senats des FG Hamburg betrifft die Frage, ob und inwieweit die Finanzbehörde angerechnete, erstattete KapESt, SoliZ – zzgl. Zinsen (6% p.a.) – zurückfordern darf, die aus Handel mit deutschen Aktien um den Dividendenstichtag in Gestalt sog. Cum/Ex-Geschäfte stammen sollen.

Der Beschluss betrifft ein zentrales verfahrensrechtliches Gebiet: die Änderung von Steuer-Verwaltungsakten.

Die Änderung wirksamer Steuerverwaltungsakte (= Steuerbescheide und gleichgestellte Verwaltungsakte oder sonstige Verwaltungsakte) setzt zweierlei voraus: eine Änderungsvorschrift (nachfolgend: 1.) und keine Verjährung (nachfolgend: 2.).

1. Änderungsvorschrift

Der Senat lässt vorliegend offen, ob die Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift (§ 130 Abs. 2 AO) erfüllt sind. Der Beschluss ist daher für die Frage nicht ergiebig, welche Norm für die Änderung von Anrechnungsverfügungen bei (mutmaßlichen) Cum/Ex-Geschäften einschlägig ist. Dieser Frage wird deshalb nachfolgend nachgegangen.

a) Anrechnungsverfügung

Der Steuereffekt aus Cum/Ex-Geschäften, d.h. die (mehrfache) Anrechnung von (nicht, nur einmal abgeführter) KapESt nebst SoliZ, tritt letztlich in der sog. Anrechnungsverfügung (AEAO zu § 218 Nr. 3) ein. Bildlich gesprochen folgt sie auf dem „Stück Papier“ „Steuerbescheid“ der Steuerfestsetzung, dem „1. Bescheid“ des Festsetzungsverfahrens (vorliegend: KSt 2006), als „2. Bescheid“ des Erhebungsverfahrens (vorliegend: KapESt, SoliZ). Ergibt der Saldo beider Bescheide einen Anrechnungsüberhang zugunsten der Steuerpflichtigen und steht dessen Auszahlung auch im Übrigen nichts entgegen (vorliegend war noch eine Verrechnung mit der GewSt-Zahllast 2006 erfolgt), erhält die Steuerpflichtige, wie vorliegend die GmbH, eine Erstattung.

Diese Anrechnungsverfügung ist ein sonstiger Steuerverwaltungsakt. Deshalb kommen die Änderungsvorschriften (§ 129) § 130 und § 131 AO in Betracht.

b) Rechtswidrig, begünstigend: § 130 Absatz 2 AO

Wenn man annähme – und dies wird, wie vorliegend, vermutlich der Ansatzpunkt der Finanzbehörden in diesen Fällen sein – eine Anrechnungsverfügung enthalte rechtswidrig KapESt, SoliZ aus Cum/Ex-Geschäften, würde ihre Änderung sich nach § 130 AO (sog. Rücknahme) richten.

Da die Anrechnungsverfügung Steuerbeträge (vorliegend: KapESt, SoliZ) enthält, welche die Zahllast (vorliegend: KSt 2006) reduziert (vorliegend: Erstattung), begünstigt sie die GmbH. Dann kommt § 130 Absatz 2 AO in Betracht. So ist das Finanzamt auch vorliegend vorgegangen.

§ 130 Abs. 2 AO knüpft die Rücknahme an bestimmte Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen begrenzen die Änderungsmöglichkeit im Kern auf Fälle, in denen die Steuerpflichtigen aufgrund ihres eigenen Verhaltens als nicht vertrauens- bzw. schutzwürdig hinsichtlich ihrer zwar rechtswidrigen, aber be-günstigenden Rechtsposition angesehen werden, z.B. weil sie unlautere Mittel angewendet, unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht haben sollen.

Die GmbH hat die dahingehenden Behauptungen des Finanzamtes vorliegend bestritten. Der Senat hat diese Fragen dahinstehen lassen. Insoweit ist generell für die Aufarbeitung solcher Fälle auf folgende Aspekte hinzuweisen:

  • Für die Frage, ob § 130 Abs. 2 Nr. 2, 3 AO vorliegen, kommt es im Einzelfall darauf an, welchen Inhalt die Steuererklärungen nebst Anlagen, Steuerbescheinigungen haben. Zeitlicher Bezugspunkt für die Frage, ob diese Erklärungen richtig oder falsch sind, ist die jeweilige Abgabe dieser Erklärungen. Inhaltlich kommt es auf die jeweilige Finanzrechtsprechung, Finanzverwaltungsauffassung und -praxis zu diesen Zeitpunkten an. Cum-Ex-Geschäfte sollen bereits seit den 1990iger Jahren existieren. § 39 AO ist seither zwar unverändert. Gleichwohl haben Gesetzgebung, Finanzrechtsprechung, Finanzverwaltungsrichtlinien und Veranlagungspraxis sich über diese vielen Jahre hinweg entwickelt.
  • Unrichtige oder unvollständige Angaben hätten Doppelwirkung: Sie können steuerverfahrensrechtlich zur Änderung nach § 130 Abs. 2 Nr. 2, 3 AO führen. Sie können zugleich steuerstrafrechtlich möglicherweise eine Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nummer 1 AO oder Nummer 2 iVm § 153 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO begründen.
  • § 130 Abs. 2 Nr. 2 AO setzt seinem Wortlaut nach nicht voraus, dass der Steuerpflichtige selbst das unlautere Mittel einsetzt. Daher dürften die Finanzbehörden bei ihren Ermessensentscheidungen eine – gerichtlich in gewissem Umfang kontrollierbare – besondere Interessenabwägung (Besteuerungsrichtigkeit vs. Vertrauensschutz) durchführen müssen, wenn der Steuerpflichtige selbst gutgläubig war (vgl. dazu BFH VII R 51/08, Rn. 27 f. zit. nach juris).

2. Zahlungsverjährung

Nachdem der Senat die Frage des Vorliegens einer Änderungsvorschrift unbeantwortet gelassen hat, stellt er – dies bildet den Schwerpunkt der Entscheidung – dar, warum vorliegend jedenfalls Zahlungsverjährung eingetreten sei.

a) Beginn

Die Zahlungsverjährung beginnt grundsätzlich mit Ablauf des Jahres, in dem der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis – vorliegend: der Rückzahlungsanspruch des Finanzamtes, der auf die zugunsten der GmbH angerechneten Steuern (vorliegend: KapESt, SoliZ) gerichtet ist – erstmals fällig geworden ist (229 Abs. 1 Satz 1 AO).

  • Zwar pflichtet der Senat dem Finanzamt bei, dass sein Rückzahlungsanspruch erst mit Änderung der Anrechnungsverfügung entstanden und im Jahr 2016 erstmals fällig geworden sein dürfte. Dann würde die Zahlungsverjährung für diesen Rückzahlungsanspruch des Finanzamtes erst noch mit Ablauf des Jahres 2016 beginnen (dazu: BFH, VII R 51/08, Rn. 33).
  • Jedoch greift der Senat im Ergebnis auf die Rechtsprechung des BFH zurück, wonach Sinn und Zweck der Zahlungsverjährung sei, dass nach dem Ablauf einer angemessenen Frist endgültig Rechtssicherheit einkehrt (dazu: BFH, aaO, Rn. 34). Danach sei es ausgeschlossen, dass die Finanzbehörde – wie vorliegend – eine Anrechnung, durch die eine Erstattung zugunsten der Steuerpflichtigen fällig geworden ist, nach Eintritt der Zahlungsverjährung ändert und dadurch einen Erstattungsanspruch zu ihren Gunsten auslöst (dazu: BFH, VII R 3/10, Rn. 9 a.E.).
  • Demzufolge ist die Änderung einer Anrechnungsverfügung nach dieser Rechtsprechung nach Ablauf der durch die Bekanntgabe der Steuerfestsetzung (§ 220 Abs. 2 Satz 2 AO) in Lauf gesetzten Zahlungsverjährungsfrist ausgeschlossen. Aus dem Umstand, dass dadurch die Zahlungsverjährungsfrist möglicherweise läuft, ohne dass die Finanzbehörde ihren Anspruch kennt, folge nichts, denn diese Frist nach § 228 AO sei eine absolute Verjährungsfrist (dazu: BFH, VII R 51/08, Rn. 34; BFH, VII R 3/10, Rn. 9). Die Gründe für eine Fehlerhaftigkeit der Anrechnung seien in Fällen eines ausgezahlten Erstattungsüberhanges zugunsten der Steuerpflichtigen ebenso bedeutungslos (dazu: BFH, VII R 55/10, Rn. 16).

Danach hatte die Zahlungsverjährungsfrist vorliegend mit Ablauf des Jahres 2007 (KSt-Festsetzung vom 22.10.2007) begonnen.

  • Hinsichtlich der o.g. Rechtsprechung des BFH weist der Senat allerdings darauf hin, dass deren Grundsätze nicht gälten, soweit auch die Steuerfestsetzung geändert würde. Dann dürfe insoweit auch die Steuererhebung (Anrechnungsverfügung) geändert werden – selbst wenn zu diesem Zeitpunkt die Zahlungsverjährung bereits eingetreten wäre (dazu: BFH, VII R 68/11, Rn. 14 ff.). Die Steuerfestsetzung – deren Änderung sich nach anderen Vorschriften richtet (§ 129, § 164, § 165, §§ 172 ff. AO) und die der vier-, fünf- oder zehnjährigen Festsetzungsverjährung unterliegt – und die Steuererhebung (Anrechnungsverfügung) – deren Änderung sich wie gezeigt nach (§ 129) § 130, § 131 AO richtet und die der fünfjährigen Zahlungsverjährung unterliegt – können also dergestalt ineinandergreifen, dass die Änderung der Steuerfestsetzung auch eine korrespondierende, punktuelle Änderung der an sich zahlungsverjährten Anrechnungsverfügung auslösen kann.
  • Angesichts der unterschiedlichen Fristdauer bedeutet dies aber auch, dass heute (im Jahr 2016) Anrechnungsverfügungen möglicherweise zurück bis zum Jahr 2003 noch änderbar sein könnten. Falls Ablaufhemmungen insb. nach § 171 AO für die Steuerfestsetzung eingreifen würden, könnten sich möglicherweise noch weiter zurückgehende Rückforderungszeiträume ergeben und gegenwärtig noch änderbare Rückforderungszeiträume zukünftig längere Zeit änderbar bleiben.

Im vorliegenden Fall jedenfalls hatte das Finanzamt allerdings – und dies ist der Kernpunkt der Entscheidung – die Steuerfestsetzung (KSt 2006) unverändert gelassen, d.h. die Anrechnungsverfügung 2006 isoliert geändert.

b) Dauer, Ende, Ergebnis

Die Zahlungsverjährung beträgt fünf Jahre (§ 228 Satz 2 AO). Hemmung, Unterbrechung sind in dem vorliegenden Fall soweit ersichtlich nicht einschlägig. Daher ist die Zahlungsverjährung im vorliegenden Fall mit Ablauf des 31.12.2012 (= Montag, § 108 Abs. 1 AO iVm § 188 Abs. 2 Fall 1 BGB) eingetreten. Nach alledem durfte das Finanzamt vorliegend die Anrechnungsverfügung 2006 vom 22.10.2007 am 18.07.2016 nicht mehr ändern und angerechnete, erstattete KapESt, SoliZ aus mutmaßlichen Cum/Ex-Geschäften nicht mehr zurückfordern.

Fundstelle

FG Hamburg, Beschluss vom 14.10.2016, 3 V 201/16, EFG 2016, S. 1845 ff.

Weitere Fundstellen

Hessisches FG, Urteil vom 10.02.2016, 4 K 1684/14, EFG 2016, 761

LG Köln, Beschluss vom 16.07.2015, 106 Qs 1/15, wistra 2015, 404

Hessisches FG, Beschluss vom 08.10.2012, 4 V 1661/11, EFG 2013, 47

BMF-Schreiben vom 24.06.2015, IV C 1, S 2252/13/10005 :003

BFH, Urteil vom 16.04.2014, I R 2/12, siehe Deloitte Tax-News, BFHE 246, 15

BFH, Urteil vom 29.10.2013, VII R 68/11, BStBl. II 2016, 115

BFH, Urteil vom 25.10.2011, VII R 55/10, BStBl. II 2012, 220

BFH, Urteil vom 09.12.2010, VII R 3/10, NV 2011, 750

BFH, Urteil vom 27.10.2009, VII R 51/08, BStBl. II 2010, 382

Weitere Beiträge

BMF, Schreiben vom 11.11.2016, IV C 6 2134/10/10003-02, 2016/1026048, siehe Deloitte Tax-News
OFD Frankfurt/Main vom 17.02.2016, S 2134 A – 15 – St 210
BFH, Urteil vom 18.08.2015, I R 88/13, BFHE 251, 190

Weiterführende Literatur

Spengel/Eisgruber, DStR 2015, 785
Schön, RdF 2015, 115

Ihr Ansprechpartner

Dr. C.-Alexander Neuling
Partner

cneuling@deloitte.de
Tel.: 030 25468-5979

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