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19.04.2010
Erbschaftsteuer

BFH: AdV wegen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes (hier: ErbStG)

Sachverhalt

Der Kläger erhielt 2009 von seinem Bruder 25.000 € geschenkt. Das Finanzamt setzte für diesen Erwerb unter Berücksichtigung eines Vorerwerbs aus dem Jahr 2008 gegen den Kläger Schenkungsteuer fest. Hierbei wurde der in § 16 Abs. 1 Nr. 5 ErbStG (i.d.F. des Erbschaftsteuerreformgesetzes vom 24.12.2008) für den Erwerb der Personen der Steuerklasse II (vgl. § 15 Abs. 1 ErbStG) vorgesehene Freibetrag von 20.000 € und der in § 19 Abs. 1 ErbStG bestimmten Steuersatz von 30 % angewendet. Den Antrag des Klägers, die Vollziehung des Schenkungsteuerbescheids auszusetzen, weil ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des ErbStG bestünden, lehnte das Finanzamt ab.

Entscheidung

Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) ist abzulehnen, wenn der Kläger nicht das unter den besonderen Umständen des Streitfalls erforderliche (besondere) Aussetzungsinteresse hat. Bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts, so ist dessen Vollziehung im Regelfall auszusetzen. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen kann trotz Vorliegens solcher Zweifel die AdV abgelehnt werden. Ein solcher atypischer Fall kommt in Betracht, wenn die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen. Ist dies der Fall, ist die Gewährung von AdV zwar nicht ausgeschlossen. Sie setzt aber nach der Rechtsprechung des BFH wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes voraus. 

Bei der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen besteht, ist dieses mit den gegen die Gewährung von AdV sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen einer AdV hinsichtlich des Gesetzesvollzuges und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an. Das Gewicht der ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Vorschrift ist bei dieser Abwägung nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Der BFH hat in Fällen, in denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen, in verschiedenen Fallgruppen dem Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen den Vorrang vor den öffentlichen Interessen eingeräumt, und zwar wenn

  • dem Steuerpflichtigen durch den sofortigen Vollzug irreparable Nachteile drohen,
  • das zu versteuernde Einkommen abzüglich der darauf zu entrichtenden Einkommensteuer unter dem sozialhilferechtlich garantierten Existenzminimum liegt,
  • das BVerfG eine ähnliche Vorschrift für nichtig erklärt hatte,
  • der BFH die vom Kläger als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt hatte,
  • ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung des bisher zulässigen Abzugs von laufenden erwerbsbedingten Aufwendungen als Werbungskosten bestehen,
  • es um das aus verfassungsrechtlichen Gründen schutzwürdige Vertrauen auf die Beibehaltung der bisherigen Rechtslage oder
  • es um ausgelaufenes Recht geht.

Dem bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des BVerfG bestehenden Geltungsanspruch jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes ist dann der Vorrang einzuräumen, wenn

  • die AdV eines Steuerbescheids im Ergebnis zur vorläufigen Nichtanwendung eines ganzen Gesetzes führte,
  • die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheids im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen als eher gering einzustufen sind und
  • der Eingriff keine dauerhaft nachteiligen Wirkungen hat.

Der dem Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen vom BFH für bestimmte Fallgruppen eingeräumte Vorrang vor den öffentlichen Interessen lässt genügend Spielraum für eine sachgerechte, dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz entsprechende Beurteilung des Einzelfalles. 

Die beantragte AdV war danach im Streitfall abzulehnen, weil ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Klägers an der Gewährung von AdV nicht anzunehmen war. Da die vom Finanzamt festgesetzte Steuer lediglich knapp 20 % des dem Kläger zugewendeten Geldbetrags beträgt, ist dem Kläger die (vorläufige) Entrichtung der Steuer ohne weiteres zumutbar. Bereits dies schließt die Gewährung von AdV aus. Aufgrund des im Vergleich zum Wert des Erwerbs niedrigen Steuerbetrags kommt dem öffentlichen Interesse an der Vollziehung des formell verfassungsgemäß zustande gekommenen ErbStG zudem besonderes Gewicht zu. Hierbei ist nicht nur auf die geringfügigen Auswirkungen einer AdV im konkreten Einzelfall abzustellen. Zwar wirkt die Entscheidung über die Gewährung von AdV unmittelbar nur zwischen den Verfahrensbeteiligten. In der praktischen Auswirkung käme die Gewährung der beantragten AdV aber im Streitfall einem einstweiligen Außerkraftsetzen des ErbStG gleich, wenn die AdV auf ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Tarifnorm des § 19 ErbStG gestützt würde (Rücksicht auf die erforderliche Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen). Diese Auswirkung ist bei der hier vorzunehmenden Abwägung maßgebend. Die Voraussetzungen, unter denen bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden gesetzlichen Vorschrift AdV zu gewähren ist, sind vorliegend deshalb nicht erfüllt.

Vorinstanz

Finanzgericht München, Urteil vom 05.10.2009, Az. 4 V 1548/09, EFG 2010, S. 158, siehe auch Eintrag in Deloitte Tax-News v. 25.02.2010.

Fundstelle

BFH-Beschluss vom 01.04.2010, Az. II B 168/09, BStBl II 2010, S. 558.

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